1275 - Der Totenkopf-Sammler
Wange. »Danke, nicht nötig.«
Seine Hand sank wieder nach unten, und Günther war froh darüber, denn er hatte das Gefühl gehabt, von einer Totenklaue berührt worden zu sein.
»Gut, dann… äh… sagen Sie Bescheid, wenn Sie trotzdem nicht zurechtkommen.«
»Das werde ich machen.«
Nach diesen Worten ging Kelo auf die offen stehende Tür zu. Er brauchte einen weiteren Schritt, um den Gang zu erreichen, an dessen linker Seite die Leichen aufgebahrt wurden.
Die Tür fiel wieder zu.
Günther atmete auf. Nur für einen Moment. Ansonsten machte er sich Vorwürfe, den unheimlichen Besucher überhaupt eingelassen zu haben, und er befürchtete, dass dieser Abend oder die folgende Nacht noch böse für ihn enden würde…
***
Boris Kelo hatte sein Ziel erreicht und fühlte sich in dieser Umgebung mehr als wohl. Der Professor war gestorben, daran gab es nichts zu rütteln, aber Kelo wollte nicht, dass er einfach nur tot war und schließlich in einem finsteren Grab verschwand. Das hatte er nicht nötig. Er musste ihm zuvor noch einen Gefallen tun.
Nachdem die Tür hinter ihm zugefallen war, blieb Kelo stehen und saugte wieder die Luft ein. Sie war schlechter als die im Vorraum und erst recht mieser als die Luft draußen, aber sie gefiel ihm, denn durch das Einatmen spürte er die Nähe des Todes doppelt so stark. Genau das liebte er. Da blühte er auf, denn sein Verhältnis zu den Toten war ein ganz anderes als das eines normalen Menschen. Er liebte die Leichen zwar nicht, aber er brauchte sie, und dass er sie brauchte, das hatte er schon des Öfteren bewiesen.
Kelo ging mit langsamen Schritten weiter. Die ersten drei Boxen waren leer. Ihre Türen waren bis über die Hälfte mit Glasscheiben bestückt, der Besucher konnte in »Käfige« hineinschauen und sich dabei die Leiche ansehen.
Es roch nicht nur nach Tod und Vergänglichkeit, sondern auch nach Tränen, die von den Verbliebenen, bei ihren Besuchen vergossen worden waren. Es war eine Welt für sich, zu der nur wenige Personen Zugang hatten, aber Kelo brauchte diese Welt.
Drei leere Boxen passierte er. Vor der vierten blieb er stehen, denn dort lag der Tote, den er besuchen wollte.
Der erste Blick durch die Scheibe sagte ihm, dass dieser Günther nicht gelogen hatte. Die Box war tatsächlich belegt. In ihr stand der offene Sarg, und darin lag der Mann, auf den es Kelo ankam.
Professor Harald Wimmer!
Eine Kapazität auf dem Gebiet der Physik. Einer der großen Denker, ein Mathematiker zugleich, der auch versucht hatte, an der berühmten Weltformel mitzuarbeiten, nach der große Geister forschten.
Der sich zudem mit der Quantenphysik verheiratet hatte und versuchen wollte, über sie das Phänomen der Zeitreisen zu ergründen.
Und jetzt war er tot!
Dieser große Wissenschaftler und Geist sah aus wie jeder normale Mensch. Er lag rücklings im offenen Sarg. Er trug ein bleiches Totenhemd, und seine starren Hände lagen übereinander auf der Brust. Die Augen waren ihm geschlossen worden. Wäre das nicht der Fall gewesen, dann hätten sie starr gegen die Decke geschaut, ohne einen Funken Leben.
Professor Wimmer war genau 60 Jahre alt geworden. Da hatte ihn ein Infarkt hingerafft. Eine Folge seines ruhelosen Lebens, des wissenschaftlichen Stresses, denn Wimmer hatte nur seine Arbeit gekannt und seine Familie darüber vergessen. Wie weit er mit seinen Forschungen gediehen war, das wusste Boris Kelo nicht, aber das war für ihn im Moment auch nicht wichtig.
Er schaute noch mal zurück zur Tür. Sie blieb geschlossen. Günther war also nicht so neugierig. Gut für ihn. Wäre es anders gewesen, hätte Kelo zu anderen Maßnahmen greifen müssen.
So war und blieb er allein. Er konnte sich an die Arbeit machen. Sein Blick fiel auf den Griff der Tür. Er sah aus wie der Griff eines Fensters. Günther hatte ihm gesagt, dass der Zugang nicht abgeschlossen war, und so probierte Kelo es aus.
Es stimmte. Er konnte den Griff bewegen und lächelte vor sich hin, als ihm dies gelang. Etwas später wunderte er sich darüber, wie schwer die Tür war, als er sie aufzog. Das musste wohl sein, um den Geruch fern zu halten.
Er beugte sich in die Box hinein. Er schnüffelte wieder. Vielleicht bildete er sich den Verwesungsgeruch nur ein, aber letztendlich gefiel er ihm.
Es war wirklich nicht viel Platz, um sich in die Box hineinquetschen zu können. Kelo schaffte es mit Mühen, doch er brauchte nicht bis zum Kopfende zu gehen. Dank seiner langen Arme konnte er sein Vorhaben
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