128 - Der Schläfer
Tastatur, und binnen weniger Augenblicke lachte ihm ein bluttriefender, abgetrennter Taratzenkopf entgegen. Sein jüngeres Ich hatte einen ziemlich abgedrehten Sinn für Humor gehabt.
»Womit kann ich dien…« Hastig regelte Rulfan die akustische Wiedergabe ab und beschränkte sich nur noch auf die Eingabe über Tastatur.
Ein Gespinst erschien wie von Geisterhand, durchdrang den kleinen Korpus der Zentral-Helix. Ein Körper. Er verdichtete sich, wurde semitransparent. Er wechselte die Gestalt. Zuerst Aunaara. Dann Aruula. Dann Wulf. Dann…
(Die Verbindung nach London), sagte eine drängende, fordernde, zwingende Stimme. (Infiltriere sie!) Rulfan wollte widerstehen, wollte kämpfen – und verlor. Wie losgelöst von seinem Körper sah er, wie sich seine Finger bewegten und Befehle formulierten.
Er verkrampfte. Er zitterte. Er schwitzte.
(Schick die Infiltrationspakete ab!),
forderte Aunaara/Aruula/Wulf.
»Es… es geht nicht!« Ein letzter Rest von individuellem Denken ließ ihn Widerstand leisten. »Man würde mich bemerken. Ich… mit meinem Zugangscode kann ich nur… beobachten, aber nichts… verändern.«
(Versager!), sagte die Stimme der unheiligen Dreifaltigkeit emotionslos. Gesicht und Körper wechselten ein letztes Mal von Lupa zu Frau – und verwehten schließlich im Nichts.
»Sagtest du ›Versager‹ zu mir?«
»Wie bitte?« Rulfan blickte hoch. Eve hatte sich zu ihm umgedreht.
Wo war er? Was hatte er soeben getan? Seltsam… Er musste einen Tagtraum gehabt haben, doch er konnte sich beim besten Willen nicht mehr daran erinnern
»Du hast… meine Güte, du bist ja ganz verschwitzt!«
Rulfan sah das Erschrecken in ihrem Gesicht. Verschwitzt?
Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Tatsächlich.
Schweißnass.
»Es ist… nichts«, sagte er schwach. »Kommt es dir nicht auch ein wenig warm hier drinnen vor?«
»Warm? Es hat nicht mehr als zwanzig Grad in dieser Kammer!« Eve Neuf-Deville drehte sich um, sah nach draußen.
»Es wäre besser, wenn du dich beeilst. Die Leute schauen schon her. Ich sehe Kucholsky und Saint Neven, die auf uns zukommen. Was auch immer du gerade machst – beende es. Sofort!«
Rulfan zögerte einen kurzen Moment, konfigurierte mit wenigen Befehlen einen zusätzlichen Beobachtungswurm und verließ schließlich den virtuellen Bereich der Zentral-Helix.
Die Türe öffnete sich. Die beiden Octaviane betraten die Kammer und blickten sich misstrauisch um. »Was habt ihr hier zu suchen?«, fragte Sarah Kucholsky zornig. »Dies ist ein hochsensibler Bereich, das Herz Salisburys. Ich würde es begrüßen, wenn ihr hier nichts anfasst.«
»Keine Bange«, entgegnete Rulfan matt lächelnd. »Ich musste mich nur mal setzen, weil mir schwindlig wurde.«
Improvisieren war seit jeher eine seiner Stärken gewesen.
Saint Neven beäugte ihn stirnrunzelnd, während Sarah Kucholsky auf den Bildschirm vor seinem Sitzplatz lugte.
»Du wirkst wirklich etwas angegriffen«, sagte der Mann.
»Sollen wir dich zu Grimes bringen? Er hat immer ein Mittelchen parat.«
»Nein, danke. Es geht schon wieder.« Rulfan stemmte sich auf seine wackligen Knie. »Ich brauche nur ein bisschen frische Luft. Die trockene, sterile Atmosphäre hier macht mir zu schaffen. Wenn ihr mich entschuldigt?«
Eve stützte ihn, als er den Raum der Zentral-Helix und in weiterer Folge das »Nest« verließ.
»Was war das gerade?«, fragte Neuf-Deville noch einmal.
»Ich weiß es nicht«, gestand Rulfan. »Wahrscheinlich ein Schwächeanfall. Ich war plötzlich wie weggetreten, und ich kann mich an nichts erinnern.«
»Ich habe noch nie einen Menschen gesehen, der binnen einer Minute völlig schweißgebadet war«, sagte Eve.
»Eine Minute? Nicht mehr?«
»Genau gesagt, fünfundfünfzig Sekunden.«
Sie schwieg, während ein Personenaufzug sie in die oberste Ebene brachte.
»Kann Kucholsky herausfinden, dass du in die Helix eingedrungen bist?«, fragte Eve vor dem Zentralausgang.
»Sicher nicht.« Rulfan grinste müde. »Alle Protokolle wurden mit meinem Ausstieg gelöscht, meine Spuren verwischt. Ich sagte dir ja: Ab und zu habe ich in meiner Jugend auch was gelernt.«
Die äußere Schleuse öffnete sich. Zwei bewaffnete Männer der Community machten ihnen bereitwillig Platz. Eisig kalte Luft empfing sie. Das Land war weiß geworden. Eine dünne Schneeschicht überdeckte es.
»Ich werde mich nie an dieses Bunkerleben gewöhnen«, sagte Rulfan. »Diese Imitation von Leben – sie macht mich krank!«
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