1280 - Der Engel und sein Henker
eine wilde Geschichte, aber ich glaubte sie der Frau. Lavinia Kent war keine Spinnerin. Die machte sich nichts vor. Die erzählte auch nicht unbedingt irgendwelche Märchen, um sich wichtig zu machen, und wenn ich sie anschaute, dann sah ich eine Veränderung bei ihr. Der Ausdruck ihrer Augen hatte seine Ruhe verloren. Er wirkte jetzt flackernd und ängstlich. Und das bei einer Frau, die nicht mal durch zwei Kugeln hatte getötet werden können. Das war schon ein Phänomen, und mit dem Begreifen hatte ich meine Mühe.
»Und Sie sind sicher, dass genau Sie die Frau sind, hinter der der Henker mit dem Beil steht?«
»Hundertprozentig. Ich trage einrötliches hochgeschlossenes Kleid und warte darauf, dass mir der Kopf abgeschlagen wird. So einfach ist das.« Sie lehnte sich zurück und lächelte mich an, aber das Lächeln war alles andere als weich oder fröhlich. Die Angst bei ihr ließ sich einfach nicht übertünchen.
»Darf ich fragen, wie sich Ihr Schutzengel dabei verhält?«
»Das dürfen Sie, John. Aber die Antwort wird Ihnen nicht gefallen. Ich kann Ihnen nur so viel sagen, dass mein Schutzengel einfach nicht vorhanden ist. Es gibt ihn nicht. Sorry.«
»Aber es gibt den Henker.«
»Natürlich.«
»Ich frage mal ganz dumm. Kennen Sie ihn? Haben Sie schon jemals mit ihm zu tun gehabt?«
»Nein«, erwiderte sie voller Überzeugung. »Ich ganz bestimmt nicht, John. Auf keinen Fall.«
»Warum ist er dann hinter Ihnen her?«
Lavinia musste schlucken. »Ja, das frage ich mich auch. Warum ist er hinter mir her? Ich weiß es nicht. Ich kann es beim besten Willen nicht sagen. Das müssen Sie mir schon zugestehen. Aber ich habe die Hoffnung, dass wir es gemeinsam herausfinden können. Ich möchte, dass der Henker gestellt und ausgeschaltet wird. Das weiß auch Purdy Prentiss, und deshalb hat sie uns zusammengeführt. Sie meinte, dass Sie mir helfen können, John.«
Ich lächelte schief. »Da hat die gute Purdy ja großes Vertrauen in mich gesetzt.«
»Das gerechtfertigt ist, wie ich meine.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Das weiß ich nicht. Für mich wäre es wichtig, diesen Henker ebenfalls zu sehen.«
»Was bestimmt passieren kann.«
»Ja, gut, aber bleiben wir mal bei Ihnen. Sie haben sich als Delinquentin gesehen.«
»Ja.«
»Und in welch einer Zeit haben Sie sich gesehen? War es die heutige? War es an einem Ort, den sie identifizieren können? Sind Sie schon mal dort gewesen und so weiter…«
»Ich bin ich.«
»Klar. Aber auch in dieser Zeit?«
Lavinia schüttelte den Kopf. »Können Sie mir das genauer erklären, John?«
»Gern. Ich habe mir schon gedacht, dass es in der Vergangenheit passiert sein könnte. Dass irgendein Vorgang nicht beendet wurde und man das nachholen will.«
Sie blies die Luft aus. »Das ist ein Hammer«, gab sie flüsternd zurück. »Und das würde auch bedeuten, dass ich in der Vergangenheit bereits gelebt habe - oder?«
»Zum Beispiel.«
»Nein, John, nein, das ist…«
Ich winkte mit beiden Händen ab. »Werfen Sie es nicht so weit von sich, Lavinia. Es gibt Menschen, die schon mal gelebt haben. Dazu gehöre ich auch. Und wenn das bei Ihnen der Fall gewesen ist, dann muss in der Vergangenheit etwas passiert sein, das noch nicht zu Ende gebracht oder aufgearbeitet wurde. So liegen die Dinge. So und nicht anders.«
»Zu Ende gebracht«, wiederholte sie und schüttelte sich. »Das ist wirklich ein Hammer. Ich kann nicht fassen, dass es so etwas wirklich gibt. Das kommt mir alles spanisch vor. So unerklärbar…«
»Das sagen gerade Sie?«
Die Psychologin musste lachen. »Ich weiß, was Sie jetzt denken. Jemand, dem in bestimmten Situationen Kugeln nichts ausmachen, müsste eigentlich so fest sein, dass er das andere locker hinnimmt. Ich bin aber nicht so fest, verdammt! Was da passiert ist, macht mir Angst. Das sind Schläge, denen ich nicht entkommen kann, und sie treffen mich weit unter der Gürtellinie. Ich habe mich immer auf meine Kraft verlassen, aber jetzt stehe ich wie am Rande eines Abgrunds.«
»Und Sie haben nie ein Déjà-vu-Erlebnis gehabt? Dass Sie plötzlich in eine Lage geraten sind, wo Sie sagen: verdammt, hier bin ich schon mal gewesen, aber nicht in diesem, sondern in einem anderen Leben und als eine andere Person?«
»Nein, ich glaube nicht«, erwiderte sie leise. »Ich habe mir darüber auch nie großartig Gedanken gemacht. Ich hatte ja zu viel mit meiner anderen Seite zu tun. Mit meinem Schutzengel, der mich nie im Stich gelassen
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