1280 - Der Engel und sein Henker
hat.«
»Bis auf den Henker«, sagte ich.
Lavinia Kent schüttelte heftig den Kopf. »Das stimmt auch nicht. Ich denke, dass er mich bisher vor dem Henker bewahrt hat.« Sie beugte sich vor. »Sonst hätte er schon längst zugeschlagen, verstehen Sie. Das Schwert schwebte bisher über mir, aber es ist nie nach unten gefahren. Mittlerweile ist meine Angst aber gewachsen. Ich fürchte, dass es eintreffen könnte.«
»Das kann sein. Haben Sie denn nie gespürt, dass im Augenblick der Gefahr Ihr Schutzengel Sie übernommen hat?«
»Habe ich nicht.«
»Warum nicht?«
»Kann ich nicht sagen.«
»Und Sie hatten auch nicht den Eindruck, verlassen worden zu sein, wenn die Gestalt auftauchte?«
»Nein, hatte ich nicht.«
»Wann ist sie denn immer erschienen?«
Lavinia lehnte sich zurück und schloss die Augen. »Ja, wann ist sie erschienen?«, murmelte sie.
»Mal in der Nacht in meinen Träumen, aber auch am Tage.«
»In welch einem Zustand befanden Sie sich dann?«
Sie hob die Schultern. »Das kann ich so genau nicht sagen. Ich war jedenfalls immer allein. Es gibt auch keine Zeugen. Er tauchte auf, und ich erlebte dann eine hündische Angst. Ich habe das Bild an der Wand gesehen, es hat sich im Spiegel gezeigt, auch an der Decke und sogar in der freien Natur. Der Henker hat mich verfolgt, und ich leide wirklich nicht an Verfolgungswahn. Erklärungen kann ich leider nicht bieten. Es sei denn, ich akzeptiere das, was Sie vorhin mit einem zweiten Leben gemeint haben.«
»Das wäre wohl nicht schlecht.«
Sie schluckte einige Male. »Dann müsste ich mich an den Gedanken gewöhnen, schon mal in der Vergangenheit als eine andere Person gelebt zu haben. Eine Frau, die ein dunkelrotes Kleid trägt, aber so aussieht wie ich.« Sie lachte auf. »Meine Güte, ich habe die Berichte von Menschen verfolgt, die schon mal gelebt haben. Ich war immer skeptisch. Aber jetzt muss ich mich wohl daran gewöhnen, sage ich mal.«
»Das denke ich auch.«
Lavinia streckte ihre Beine aus. Sie nahm eine entspannte Haltung ein, ohne dass sie selbst entspannt war. »Es stellt sich die Frage, wie es weitergehen soll. Ich kann nicht bis zu meinem Ende mit dieser Bedrohung leben. Es muss eine Lösung geben, genau das hat Purdy Prentiss auch gemeint und uns deshalb zusammengebracht. Da möchte ich Sie auch fragen. Kennen Sie die Lösung?«
»Noch nicht.«
»Kennen Sie vielleicht einen Weg, um hinzugelangen?«
»Das wäre eher der Fall«, sagte ich und streckte meine Arme zur Seite. »Es wäre wirklich sinnvoll, wenn ich als Zeuge dabei bin, wenn Sie mal wieder dieses Bild sehen. Erst dann könnte ich etwas unternehmen. Ansonsten muss ich passen.«
Die Psychologin schüttelte den Kopf. »Tut mir Leid, John, aber das kann ich nicht steuern.«
Ich nickte. »Es würde demnach bedeuten, dass wir beide zusammenbleiben müssen, bis dieses Bild wieder entsteht, damit ich eingreifen kann. Ist das auch Ihre Meinung?«
»Gibt es eine andere Möglichkeit?«
»Kann sein. Mir fällt nur keine ein. Aber ich habe noch eine Frage, Lavinia. Gab es denn Intervalle, in denen der Henker auftauchte?«
»Sie denken an bestimmte Zeitabstände, die sich ausrechnen lassen?«
»Genau so.«
»Da habe ich keine Ahnung. Nein, bestimmte Intervalle gab es nicht. Er kam, er hatte sein Beil angehoben, und ich musste immer damit rechnen, dass er plötzlich ausschlägt. Aber das sind leider Dinge, die ich nicht steuern kann. Ich würde es gern tun, doch da stehe ich wirklich vor einem großen Rätsel.«
»Wir werden es lösen.«
»Meinen Sie?«
»Soll ich jetzt schon aufgeben und sagen, das geht mich nichts an?« Ich lächelte, schaute ihr in die Augen und schüttelte den Kopf. »Nein, Lavinia, so läuft das nicht. Schon alleine wegen Purdy Prentiss. Ich würde in ihrer Achtung tief sinken, sehr tief sogar. Außerdem haben Sie meine Neugierde geweckt, denn Henker haben schon immer zu meinen besonderen Freunden gezählt.«
»Das habe ich verstanden. Nur müssten wir erst eine Spur zu ihm finden, und das gäbe ein Problem.«
»Sicher.«
»Keine Lösung, John?«
»Nein, die habe ich leider nicht. Wir müssen ihm die Initiative überlassen.«
Lavinia griff zur Weinflasche und schenkte zuerst mir ein, dann sich selbst. »Im Klartext heißt dies, dass wir zunächst mal warten müssen.«
»Leider.«
Sie hob ihr Glas an und konnte auch wieder lächeln. »Darauf sollten wir einen Schluck trinken.«
Der Wein war kühl geblieben, und er mundete mir wieder
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