1286 - Todesruf der Geisterfrau
sich umgebracht hat.«
»Weil er zu ihr wollte!«, wiederholte Eric.
»Zu einer Toten?«
Er lachte laut auf. »Klar. Oder haben Sie eine andere Lösung? Ich nicht. Ich habe seine Worte genau behalten. Er wollte zu seiner Helena.«
»Dann hat er eine Tote geliebt«, sagte ich.
»Toll. Wie das? Eine Tote lieben? Es gibt Typen. Ich habe da mal den Film Psycho gesehen. Da ist das vorgekommen. Da hat jemand seine Mutter geliebt, die schon lange tot gewesen ist, und die er als halbes Skelett im Keller aufbewahrt hat. Aber das war in einem Film. So etwas passiert nicht in Wirklichkeit. Er hat von der Schönheit einer Frau geschwärmt und nicht von der einer Toten.«
»Ja, ja, das ist schon richtig. Ich weiß auch nicht, wie die Dinge gelaufen sind. Es kann sein, dass wir es nie herausbekommen und dass wir vergebens über den Friedhof wandern.«
Ich hatte die Antwort gegen meine Überzeugung gesprochen. Eric Caine war nicht mit meinem Job verbunden. Er wusste nichts von den Dingen, die mir bekannt waren, und da machte ich mir schon meine Gedanken.
Ich kannte Personen, die tatsächlich aus dem Totenreich zurückgekehrt waren oder Lebende hineinlockten. So ähnlich konnte es auch hier gelaufen sein. Die Liebe des Mannes zu dieser Helena musste so stark gewesen sein, dass sie über den Tod hinwegging. Was mit den drei anderen Männern passiert war, die sich hier auf dem düsteren Areal umgebracht hatten, wusste ich nicht. Möglicherweise hatten sie Ähnliches erlebt.
»Wir müssen die Treppe hoch«, erklärte Caine.
Der Friedhof lag nicht nur auf einer Ebene. Man konnte über ansteigende Wege gehen, aber auch Treppen nehmen, und eine solche lag jetzt vor uns. Sie war sehr breit, und die alten Steinstufen sahen sehr ausgetreten aus. Der Wind hatte altes Laub gegen die Seiten der Stufen gefegt und auch dicht an die beiden Mauern heran, die die Treppe stützten.
An ihrem Ende sahen wir die dichten Laubbäume, die nicht viel Tageslicht durchließen. Es musste Stellen auf dem Friedhof geben, wo so gut wie kein Sonnenlicht hinschien. Da wurde der Boden dann auch nie richtig trocken. Er blieb feucht und klebrig. Ein Paradies für Pilze und Moose.
»Den Weg kenne ich verdammt gut«, erklärte Eric Caine und lachte dabei. »Er ist so etwas wie mein Heimatkurs.«
»Heimat?«
»Ja, die Bank.«
»Ach so.«
Er blieb auf der drittletzten Stufe stehen. »Sinclair, Sie glauben gar nicht, wie toll das sein kann, die Nächte auf einer Friedhofsbank zu verbringen. Da haben Sie Ruhe. Da ist alles super. Da gibt es keine Störungen.«
»Bis auf den Regen.«
Caine grinste mich an. »Sie können einem auch alles mies machen«, erklärte er.
»Ich bin Realist.«
»Okay, dann gehen wir weiter.«
Es war kein Problem, auch die letzten Stufen zu überwinden, und als wir auf der höheren Ebene des Friedhofs standen, da kam ich mir trotzdem ziemlich allein vor. Zudem hatte ich nicht unbedingt den Eindruck, auf einem Friedhof zu stehen, denn hier hatte der Bewuchs tatsächlich schon dschungelähnliche Ausmaße angenommen. Sehr hohe Bäume, dichte Büsche und Bodendecker. Überall, wo ich auch hinschaute, sah ich den dichten Efeu mit seinen dunkelgrünen Blättern.
Er rankte auch an den großen Grabsteinen in die Höhe. Hier waren die Gräber keine normalen Gräber mehr, sondern Gruften, die auf ihrem Areal teilweise einen besonderen Schmuck aus Stein trugen. So schaute ich auf die verschiedensten Figuren, zumeist Darstellungen von Engeln.
Manche standen einfach nur da und schauten über die Gräber hinweg auf den Betrachter. Es gab auch welche in anderen Positionen, die entweder geduckt auf irgendetwas lauerten oder ein Arm erhoben hatten und zum Himmel wiesen.
Ich hatte Eric Caine stehen lassen und schlenderte an diesen Grabstätten entlang. Meine Blicke glitten über die Figuren und über die Steine hinweg, an denen die Zeiten auch nicht spurlos vorübergegangen waren. Keine Engel oder kein Kreuz, auch kein Grabstein war mehr glatt. Moos und Gräser hatten sich in die Spalten geklemmt und die Inschriften verwischen lassen.
Wenn Jahreszahlen zu erkennen waren, dann lagen die Geburts- und Sterbedaten weit zurück. In der Regel lagen sie im vorletzten Jahrhundert.
Mir war auch aufgefallen, dass uns kein Mensch begegnet war. Auch jetzt gab es außer uns niemanden, der sich auf dem Friedhof aufhielt, was schon seltsam war. Schließlich hatten wir Tag und keine Nacht, obwohl das Gelände an nicht wenigen Stellen so aussah, als hätte
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