1288 - Das unheimliche Mädchen
erst einen Schritt über die Schwelle gesetzt, als ich erneut stehen blieb und das Kreuz von meiner Brust entfernte. Ich steckte es griffbereit in die Tasche, denn ich wusste, dass ich es sehr bald brauchen würde.
Mit zielstrebigen Schritten näherte ich mich dem Eingang des Klosters und schaute auf eine geschlossene Tür.
Es sah nicht so aus, als wäre Gabriela durch sie nach draußen geflohen, aber wäre ich an ihrer Stelle gewesen, ich hätte es getan. Sich im Kloster zu verstecken, hätte nichts gebracht, und so zog ich die schwere Tür auf und ging nach draußen.
Es war Zeit vergangen, und das wurde mir schnell klar, als ich vor der Tür stand. Die Helligkeit hatte sich zurückgezogen. Zwar war die Sonne noch nicht völlig abgetaucht, aber sehen konnte ich sie nur indirekt, denn sie hatte sich tief im Westen verzogen und schickte ihren Schein jetzt gegen die heraufziehenden Schatten der Dämmerung, die sich als lange Streifen am Himmel ausgebreitet hatten und an den Rändern gelblich rot schimmerten.
Noch war das Licht recht günstig. Ich brauchte keine Lampe, um mich zu orientieren, aber meine Hoffnung, Gabriela schnell zu finden, erfüllte sich nicht.
Der Platz vor dem Haus war leer, abgesehen von meinem Leihwagen, der dort einsam parkte.
Ich blieb nach wenigen Schritten neben ihm stehen und dachte nach, was ich an Gabrielas Stelle getan hätte. Klar, auch ich hätte mich versteckt. Fragte sich nur, wo.
Verstecke gab es leider genug. Nicht nur innerhalb dieses Klostergeländes. Sie hätte auch über die Mauer klettern können, um sich zwischen den Rebstöcken zu verbergen.
Ich war recht ratlos, bewegte den Kopf nach links und nach rechts, und dachte auch darüber nach, Gabriela zu rufen. Zu mir hatte sie eine besondere Beziehung. Sie wusste, dass ich ihr gegenüber auch Verständnis zeigen würde, und ich ging zusätzlich davon aus, dass sie unter ihrem Schicksal selbst litt und es möglicherweise loswerden wollte.
Es verging etwa eine halbe Minute, da hatte ich mich an die stille Umgebung gewöhnt. Fremde Geräusche waren nicht zu hören. Die nächste Ortschaft und auch die nächste Straße lagen sehr weit weg. Als hätte man sie von dieser Welt getrennt.
Vielleicht hatte sie mich ja gesehen und traute sich nicht, aus ihrem Versteck hervorzukommen. Vielleicht litt sie auch und schämte sich jetzt, jemandem etwas über ihre Probleme zu sagen.
Ich schlenderte nach vorn. Es sah locker aus, aber innerlich war ich schon angespannt. Ich kam mir vor wie jemand, der auf einem schmalen Mauersims seinen Weg findet und nicht weiß, ob er beim Fallen in Watte fällt oder auf harten Betonboden. Es war mein innerlicher Zwiespalt, der mich nachdenken ließ und diesen Vergleich auf Gabriela übertrug. Auch sie musste sich so fühlen. Die berühmten zwei Seelen, die in ihrer Brust lebten. Es war zu hoffen, dass die positive Seite stärker war als die negative.
Ich war in die Nähe der Mauer gegangen und überprüfte wenig später das Tor. Es sah mehr nach einer Alibifunktion aus, doch ich wunderte mich schon, dass man es abgeschlossen hatte. Das musste nach unserer Ankunft passiert sein. Wenn Gabriela das Grundstück hätte verlassen wollen, dann hätte sie über die Mauer klettern müssen. Ich suchte nach Spuren, die sie dabei möglicherweise hinterlassen hatte, doch ich fand keine.
Jetzt ging ich einfach davon aus, dass sie sich noch auf dem Grundstück des Klosters befand, und das war leider sehr groß. Da konnte ich schon Stunden suchen, ohne sie zu entdecken, wenn sie es nicht wollte.
An der Mauer entlang ging ich weiter. Rechts von mir lag das Kloster. Hinter einigen Fenstern leuchtete der gelbliche Lichtschein, aber niemand verließ die schützenden Mauern. Das war gut so, denn ich wollte mich bei meinem Rundgang nicht stören lassen.
Noch konnte ich die Lampe stecken lassen, aber die Welt vor mir zog sich schon zusammen. Durch die hereinbrechende Dämmerung hatte ich das Gefühl, dass sie sich verkleinerte. Die Richtung konnte ich mir aussuchen, und ich entschied mich dafür, nach links zu sehen. Dort hatte ich bei meiner Ankunft den kleinen Teich gesehen, dessen Ufer recht frei lagen und nicht von den Kronen der Bäume überschattet wurden.
Dorthin lenkte ich meine Schritte und hielt die Augen verdammt offen. Immer wieder kam es mir in den Sinn, Gabrielas Namen zu rufen. Der Drang verstärkte sich, und ich gab ihm nach. »Gabriela…?«
Keine Antwort. Nicht mal der Wind spielte mit den Blättern der
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