1289 - Desteros Söhne
Das schwächte sich zum Glück ab, und er konnte auch wieder problemlos tief durchatmen. Es war kaum begreiflich, aber in diesen Sekunden fühlte er sich stark. Es war ihm, als hätte er sich daran erinnert, dass er jetzt die Nachfolge seines Vaters angetreten hatte.
Und er war auch froh, dass sich seine Mutter nicht mehr in der Wohnung befand. Er war mit der Gestalt ganz allein, und er würde auch das Licht einschalten.
Und noch etwas schoss ihm durch den Kopf. Weder er noch seine Mutter hatten sich vorstellen können, was der Grund für den Tod des Paul Norris gewesen war. Als Dave auf die Gestalt schaute, kam ihm der Gedanke, dass sein Vater ermordet worden war und dass der Mörder wieder an den Ort seines Verbrechens zurückgekehrt war.
In seinem Innern tobte plötzlich eine Flamme, die von ihm nicht mehr gelöscht werden konnte. Wut, Hass, Zorn, das alles steckte darin. Er wollte auch nicht mehr feige zurückbleiben, er wollte vor allen Dingen den Einbrecher sehen.
Dave ging einen kleinen Schritt nach vorn. Er betrat das Zimmer noch nicht, sondern blieb auf der Schwelle stehen. Er schnüffelte. Etwas störte oder verwunderte ihn. Es war der seltsame Geruch.
Dave versuchte ihn zu identifizieren. Von einem Totengeruch konnte er nicht sprechen, aber zwischen den Wänden hielt sich trotzdem etwas, das ihm sauer aufstieß. Der Geruch war so scharf. Vergleichbar mit dem einer Schweißflamme. Nur glaubte er nicht, dass in diesem Zimmer jemand auf diese Art und Weise gearbeitet hatte. Da musste es schon einen anderen Grund geben.
Unter seinen Fingern spürte er den Schalter. Er wollte ihn drücken, da erwischte ihn die Stimme.
»Lass es sein!«
Dave zog seine Hand schnell zurück. »Wer sind Sie?«, flüsterte er.
Zuerst hörte er ein leises Lachen. Danach die Antwort, und die haute ihn fast um. »Ich bin dein Vater! Dein richtiger Vater, Dave…«
***
Dave Norris hatte plötzlich das Gefühl, in einem Albtraum gefangen zu sein. Zuerst der Tod seines Vaters, und jetzt erklärte ihm jemand, dass er der richtige Vater war!
»Hast du mich verstanden?«, drang die Stimme in seine Gedanken hinein.
Dave hätte gern eine Antwort gegeben, was er nicht schaffte. So konnte er nur nicken.
»Und warum höre ich nichts?«
Er wollte etwas sagen. Aber die Worte steckten in der Kehle fest. Stattdessen tat er etwas, das er selbst nicht verstand. Er ging mit langsamen Schritten vor, blieb stehen und flüsterte: »Wer bist du wirklich, verdammt?«
»Dein Vater!«
»Nein!«, brach es aus ihm hervor. »Nein, das stimmt nicht. Du bist nicht mein Vater, verflucht, mein Vater ist tot. Er ist heute gestorben. Sie haben ihn abgeholt. Du kannst nicht mein Vater sein, verflucht noch mal.«
»Ich bin es!«
»Neeinnn!« Es war ein Schrei, und es war der Schrei der Erlösung. Dave fühlte die Fesseln nicht mehr.
Er bewegte sich wieder normal und fuhr auf der Stelle herum.
Diesmal schlug er gegen den Schalter. Sein Vater hatte noch vorgehabt, die alte Deckenleuchte zu reparieren. Er war dazu nicht mehr gekommen, und deshalb flackerte das Licht. Hell und dunkel – dunkel und hell.
Ein kleines Gewitter huschte durch das Totenzimmer und erreichte mit seinem Lichtspiel auch die Gestalt am Fenster.
Sie war groß, sie war dunkel, sie war bleich zugleich. Hatte sie überhaupt ein Gesicht?
Dave Norris wusste es nicht. Er konnte nicht mehr viel erkennen, denn plötzlich jagte die Gestalt auf ihn zu. Eine Sekunde später hatte er das Gefühl, in einem Käfig zu stecken, der mit elektrischen Ladungen gefüllt war.
Überall erwischten ihn die Blitze. Sie umrasten ihn, und sie hieben in seinen Körper hinein.
Vor seinen Augen wurde es gnadenlos hell. Er glaubte, von einem Lichtschwert getroffen worden zu sein. Die kleine Welt des Zimmers wurde vor seinen Augen zerrissen. Dann war es vorbei. Seine Beine gaben nach, er hatte nichts, woran er sich hätte festhalten können, sackte zusammen und blieb bewegungslos liegen…
***
Irgendwann kam Dave Norris wieder zu sich und merkte, dass er auf dem Boden lag und ihm der Kopf weh tat. Er erwachte wie aus einem Tiefschlaf, und trotzdem war es anders, denn er fühlte sich ziemlich erschöpft und gerädert, als hätte er sechs Stunden Sport ohne eine einzige Pause hinter sich.
Dave brauchte Sekunden, um herauszufinden, wo er sich genau befand. Noch immer lag er im Sterbezimmer seines Vaters, dicht vor der noch nicht wieder geschlossenen Tür. Die Beine zeigten zur Schwelle hin, der Kopf wies zum
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