1294 - Der kopflose Engel
deutlich zu sehen. Sie bewegte ihre Lippen, doch sie konnte noch nicht reden.
»Es muss nicht sein«, schwächte Jane ab, »aber wir dürfen nichts außer Acht lassen.«
»Was ist die Hölle?« flüsterte Mabel. »Kannst du sie mir erklären?«
»Nein. Das wird wohl niemand können. Man kann sie nicht konkretisieren und sagen, dass sie tief unter der Erde liegt und dort das ewige Feuer brennt. Die Hölle - das sind oft auch wir Menschen, und möglicherweise hat dein Vater dazugehört.«
»Nein, nein, daran habe ich nie gedacht. Daran will ich auch nicht denken. Ich glaube es nicht. Ich kann und will es mir nicht vorstellen.«
»Jeder Mensch ist empfänglich für bestimmte Dinge«, sagte Jane, »warum also nicht dein Vater, Mabel?«
»Hätte sich sonst sein Gesicht auf dem des Engels gezeigt?«
»Das ist richtig. Doch ich denke, dass man auch hinter die Fassade schauen muss.«
»Das war ich, Jane. Der Engel sah aus wie ich. Warum, das kann ich dir nicht sagen.«
»Es muss einen Grund geben!«
Sie hob nur die Schultern.
Jane gab sich zunächst mit der Antwort zufrieden. - Zudem dauerte es nicht mehr als zwei Minuten, bis sie ihr Ziel erreicht hatten und fast vor dem Haus stoppten, in dem Jane Collins zusammen mit Lady Sarah Goldwyn wohnte.
Später, im Haus und bei einer Tasse Tee, schnitt sie genau dieses Problem wieder an.
»Vieles liegt in der Existenz des Engels begründet, das sage ich dir, Mabel.«
Die Angesprochene schaute auf den Tee in der Tasse. »Ich habe keine Ahnung.«
»Wenn dein Vater«, sagte Jane, nachdem sie die Tasse wieder abgesetzt hatte, »sich wirklich mit der dunklen Seite des Daseins beschäftigt hat und dich eventuell auch damit hineinziehen wollte, dann muss es jemanden gegeben haben, der dir zur Seite stand, ohne dass du es großartig gewusst hast.«
Mabel Denning kam aus dem Staunen nicht heraus. Sie wusste auch nicht, wohin sie schauen sollte.
»Nein, das ist zu hoch. Ich soll oder muss einen Helfer gehabt haben?«
»Genau!«
»Wen denn?«
»Das kann ich dir nicht mit Bestimmtheit sagen, meine Liebe. Aber wir müssen davon ausgehen.«
Sehr langsam schüttelte Mabel den Kopf. »Nein, Jane, das kann ich nicht glauben. Wen sollte ich denn…«, sie schlug sich gegen die Stirn. »Ich kenne niemanden. Oder soll ich jetzt von meinem Schutzengel anfangen? Den hat doch angeblich jeder.«
»Die Idee ist gar nicht so schlecht«, gab Jane Collins zu.
Mabel musste schlucken. »Schutzengel also?«
»Ja.«
»Wie sollte der denn aussehen?«
»Nun ja, in diesem Fall würde ich ihn nicht als einen Geist bezeichnen, sondern als eine konkrete Person, die man anfassen kann, die etwas gemerkt und entsprechende Vorkehrungen getroffen hat. Das muss alles nicht stimmen, was ich sage, aber…«
»Bitte, rede weiter. Ich höre zu.«
»Es könnte jemand gewesen sein, der über deinen Vater Bescheid wusste und entsprechende Gegenmaßnahmen traf. Da er an ihn nicht herankam, hat er sich für dich entschieden und dir gewissermaßen ein Denkmal gesetzt.«
»Den Engel?« rief Mabel laut.
»Ja. Der Engel mit deinem Gesicht, zu dem du dich hingezogen gefühlt hast. Dieser Künstler hat deinen Vater gut gekannt. Er ist womöglich ein Patient von ihm gewesen. Er hat ihn durchschaut. Er wusste, dass er schlecht war und sich zu Mächten hingezogen fühlte, die für einen Menschen nicht gut sein können. Er hat also das getan, was in seinen Kräften stand, und eben diesen Engel geschaffen.«
»Als Schutz für mich?«
»Eine andere Erklärung weiß ich nicht.«
Mabel Denning sagte nichts. Sie blieb sitzen und fuhr mit ihren Fingern durch das Haar. Sie schüttelte auch den Kopf, aber es war ihr nicht möglich, etwas zu sagen. Sie sprach weder dagegen noch dafür, doch Jane sah ihr an, dass sie damit begann, nachzudenken, und sie hob den Kopf mit einer ruckartigen Bewegung.
»Es kann sein, dass du Recht hast, Jane.«
»Oh, da bin ich gespannt.«
»Ich habe mal einen Mann getroffen, der mir sagte, dass er meinen Vater gut kennt. Sehr gut sogar. Es war in einem Café, und es sah wie ein Zufall aus. Der Mann war schon älter. Er sah ziemlich rau und kernig aus. Graues Haar, grauer Bart, sehr helle Augen, die mich eindringlich musterten. Allerdings nicht so wie jemand, der scharf darauf ist, mit mir ins Bett zu gehen, eher sorgenvoll. Im Laufe des Gesprächs habe ich erfahren, dass er Künstler ist und auch mit Kirchen zu tun hat.« Sie nickte heftig. »Jetzt fällt es mir wieder ein. Er hat sich
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