1294 - Der kopflose Engel
Ich kann mir vorstellen, dass sie uns nicht die ganze Wahrheit gesagt hat.«
»Was sollte sie verschwiegen haben, John?« Jane stand nicht auf meiner Seite. »Mabel Denning hat Angst. Sie fürchtet sich, und das kann ich verdammt gut verstehen.«
»Sicher, ich auch.«
»Ich werde trotzdem mein Bestes tun.« Sie warf noch einen letzten Blick auf den Engel, bevor sie sich umdrehte und zum Wagen ging. Sie stieg ein, hupte kurz und fuhr ab.
Ich blieb allein zurück.
Nein, nicht ganz. Es gab ja noch den Engel, und ich rechnete damit, dass er mir noch einige Probleme bereiten würde…
***
Erst hatten sich die Kollegen mal wieder aufgeregt, als ich sie anrief. Das taten sie immer, denn es hatte sich in London herumgesprochen, dass mein Anruf in der Regel Probleme und Arbeit machte.
Warum hätte es jetzt anders sein sollen? Als sie allerdings erfuhren, wie der Mann ums Leben gekommen war, hörte ich keine Beschwerden mehr. Dafür war die Lage einfach zu ernst.
Ich hatte von meinem Handy aus angerufen und befand mich im Haus des Küsters. Dass er nicht mehr lebte, war klar, aber in diesem Haus war er noch vorhanden. Es roch nach ihm. Er war irgendwie überall präsent. Sei es nun auf dem Schreibtisch, auf dem noch einige Papiere lagen, oder im kleinen Wohnzimmer. Dort sah ich eine Tasse auf dem Tisch stehen. Sie war noch nicht leer getrunken. In ihr schimmerte ein Rest Tee.
Es gab eine recht steile Treppe, die nach oben führte. Ich hatte mich dort schon umgeschaut und nichts Aufregendes entdeckt. Die Zimmer in der ersten Etage standen leer. Es waren drei, und sie hatten schräge Wände. Allerdings war jedes mit einem. Bett bestückt. Dort konnten also Menschen übernachten.
Ich stieg die Treppe wieder hinab. Den Engel hatte ich unten im Flur aufgestellt und gegen die Wand gelehnt. In dieser Haltung konnte er nicht umkippen. Er stand dort wie ein Wachtposten, den Blick auf die Innenseite der Tür gerichtet. Im Haus war es nicht dunkel. Zumindest im unteren Bereich hatte ich einige Lampen eingeschaltet. Das recht weiche Licht verteilte sich günstig, und so brauchte ich keine Angst zu haben, über irgendetwas zu stolpern.
Dann fiel mir etwas auf.
Es lagen noch drei Treppenstufen vor mir. Mein Blick war nach vorn und zugleich nach unten gerichtet, sodass ich in den Vorflur schauen konnte, wo sich der Schatten des Engels auf dem Boden abmalte. Ich hatte ihn in genauer Erinnerung. Er zog sich lang bis zur Haustür hin. Genau das war jetzt nicht der Fall, obwohl er noch an der gleichen Stelle stand.
Ich ging nicht mehr weiter und wäre beinahe noch zurückgezuckt, denn das war wirklich ein Phänomen. Wie konnte der verdammte Schatten kürzer werden?
Es gab nur eine Möglichkeit. Etwas musste mit der Engelsfigur geschehen sein.
Ich spürte den leichten Druck im Magen. Mein Herz klopfte plötzlich schneller. Schweiß lag dünn auf meiner Stirn. Ohne dass ich einen Beweis gehabt hätte, wusste ich, dass es eine Veränderung gegeben hatte.
Mit einer bedächtigen Bewegung holte ich die Beretta hervor. Die Mündung wies nach unten. Sie zielte genau auf den Schatten, obwohl der kein Ziel war.
Sehr leise ging ich weiter. Das Knarren der alten Holzstufen hielt sich in Grenzen, und als ich auf der letzten Stufe stand und den Kopf nach rechts drehte, da sah ich, was passiert war.
Der Engel stand noch an der gleichen Stelle.
Nur fehlte ihm jetzt der Kopf!
***
Der nächste Schritt brachte mich weg von der Treppe. Mit dem folgenden näherte ich mich der Haustür, drehte ihr aber den Rücken zu und schaute dorthin, wo der Engel stand.
Es stimmte.
Er besaß keinen Kopf mehr.
Glatt war er vom Körper abgetrennt worden. Mit einem perfekten Hieb oder Schnitt. Langsam stieß ich die Luft aus. Eine derartige Überraschung musste erst verdaut werden. Sofort tauchte die nächste Frage auf. Wo, zum Teufel, befand sich der Kopf?
Ich blickte mich in der Nähe um. Ich schaute sogar gegen die Decke, aber auch da war nichts zu sehen. Der Kopf klebte weder an ihr, noch lag er auf dem Boden.
Er war einfach weg!
Um mich herum war es still. Aber ich konnte mich nicht wohl fühlen und die Ruhe genießen. In mir zitterte es. Ich ging von dem Gedanken aus, dass sich jemand in meiner Nähe aufhielt. Ich wollte einfach nicht glauben, dass der Kopf des Engels von allein abgefallen war. Dann hätte er vor den Füßen liegen müssen.
Etwas lief hier verkehrt, und das Gefühl, in einer Falle zu stecken, verstärkte sich immer mehr.
Weitere Kostenlose Bücher