13 - Wo kein Zeuge ist
dass es Zeit wird, dass wir die Kids alle zusammentrommeln und sie warnen, oder? Wenn die Opfer hier bei Colossus ausgesucht werden, dann ist unsere einzige Möglichkeit ...«
»Nichts deutet darauf hin, dass die Opfer bei Colossus ausgewählt werden«, entgegnete Ulrike trotz der Gedanken, die ihr durch den Kopf gegangen waren, ehe Neil Greenham sie unterbrochen hatte. »Diese Kinder leben am Abgrund. Sie nehmen und verkaufen Drogen, sie begehen Raubüberfälle, Einbrüche, sie prostituieren sich. Jeden einzelnen Tag treffen sie die falsche Art von Menschen, und wenn sie ums Leben kommen, dann deswegen, und nicht, weil sie einen Teil ihrer Zeit bei uns verbringen.«
Er betrachtete sie neugierig, zog das Schweigen zwischen ihnen in die Länge, und in der Stille hörte Ulrike Griffs Stimme aus dem Gemeinschaftsbüro der Einstufungsleiter. Sie wollte Neil loswerden. Sie wollte ihre Listen studieren und ein paar Entscheidungen treffen.
Schließlich sagte Neil: »Wenn du glaubst ...«
»Das glaube ich«, log sie. »Also wenn das alles war ...«
Wieder dieses Schweigen, dieser Blick. Forschend. Abwägend. Als überlege er, wie er ihre Sturheit am besten zu seinem Vorteil nutzen könne. »Ja, ich schätze, das war alles. Dann geh ich mal.« Er sah sie immer noch an. Sie hätte ihn am liebsten geohrfeigt.
»Gute Fahrt zum Arzt morgen«, wünschte sie ihm höflich.
»Ja«, antwortete er, »dafür werd ich sorgen.«
Mit diesen Worten ließ er sie allein. Gott. Gott. Dennis Butcher, dachte sie. Jetzt waren es fünf. Und bis Kimmo Thorne war ihr nicht einmal bewusst gewesen, was vor ihrer Nase passierte. Weil das Einzige, was ihre Nase wahrnehmen konnte, der Duft von Griff Strongs Aftershave war.
Und dann kam er. Er zögerte nicht an der Tür, wie Neil es getan hatte, sondern stürmte einfach herein.
»Ulrike, hast du von Dennis Butcher gehört?«
Ulrike zog die Brauen hoch. Klang er wirklich erfreut? »Neil hat es mir gerade gesagt.«
»Wirklich?« Griff setzte sich auf den zweiten Stuhl in ihrem Büro. Er trug diesen elfenbeinfarbenen Seemannspullover, der sein dunkles Haar betonte, und die Blue Jeans, unter denen sich die Michelangelo-Form seiner Oberschenkel abzeichnete. Wie typisch. »Ich bin froh, dass du Bescheid weißt«, fugte er hinzu. »Es kann also nicht das sein, was wir gedacht haben, oder?«
Wir?, dachte sie. Was wir gedacht haben? Sie fragte: »In Bezug worauf?«
»Was?«
»Was haben wir gedacht? In Bezug worauf?«
»Dass es etwas mit mir zu tun hat. Dass jemand versucht, mich fertig zu machen, indem er diese Jungen umbringt. Dennis Butcher war nicht in meinem Einstufungskurs, Ulrike. Er war bei einem der anderen Leiter.« Griff schenkte ihr ein Lächeln. »Ich bin erleichtert. Die Cops haben mir ständig im Nacken gesessen ... Na ja, das war mir nicht gerade angenehm, und dir wahrscheinlich auch nicht.«
»Warum?«
»Warum was?«
»Warum sollte es mir etwas ausmachen, wenn die Polizei jemandem im Nacken sitzt? Denkst du, ich hätte etwas mit der Ermordung dieser Jungen zu tun? Oder dass die Polizei das glaubt?«
»Um Himmels willen, nein. Ich meinte nur ... Du und ich ...« Er machte diese Geste, die jungenhaft wirken sollte, fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Es sah ansprechend zerzaust aus. Zweifellos ließ er es extra so schneiden, dass dieser Effekt sich einstellte. »Du hast doch bestimmt kein Interesse daran, dass bekannt wird, dass du und ich ... Manche Dinge hält man besser geheim. Also ...« Er knipste wieder dieses Lächeln an. Sein Blick fiel auf die Liste mit den Daten und den Kalender. »Was treibst du da? Wie ist eigentlich die Vorstandssitzung gelaufen?«
»Du solltest gehen«, erwiderte sie.
Er wirkte verwirrt. »Warum?«
»Weil ich zu arbeiten habe. Dein Tag ist vielleicht zu Ende, aber meiner noch nicht.«
»Was ist los mit dir?« Erneut das jungenhafte Haareraufen. Sie hatte es einmal charmant gefunden und einmal als Einladung verstanden, sein Haar zu berühren. Sie hatte die Hand danach ausgestreckt, und allein von der Berührung war sie feucht geworden: Ihre Finger in seinen herrlichen Locken, Vorspiel sowohl zum Kuss als auch seiner heftigen Umarmung.
»Fünf unserer Jungen sind tot, Griff«, sagte sie. »Vielleicht sechs, denn heute Morgen ist wieder einer aufgefunden worden. Das ist los mit mir.«
»Aber es gibt keine Verbindung.«
»Wie kannst du das sagen? Fünf tote Jugendliche, und das Einzige, was sie außer gelegentlichen Konflikten mit dem Gesetz
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