13 - Wo kein Zeuge ist
gemeinsam haben, ist, dass sie hier angemeldet waren.«
»Ja, ja«, sagte er. »Das weiß ich. Ich meinte diese Sache mit Dennis Butcher. Es besteht keinerlei Verbindung. Er war keiner von meinen Jungen. Ich kannte ihn nicht mal. Das heißt, du und ich ... Na ja, keiner muss davon erfahren.«
Sie sah ihn fassungslos an und fragte sich, wie sie hatte übersehen können ... Was hatte es nur auf sich mit äußerlicher Schönheit? Machte sie den Betrachter nicht nur blind und taub, sondern obendrein blöd?
Sie sagte: »Tja. Mach dir einen netten Abend.« Sie nahm einen Stift zur Hand und senkte den Kopf über ihre Arbeit.
Er sagte noch einmal ihren Namen, aber sie reagierte nicht. Und sie schaute auch nicht auf, als er das Büro verließ.
Doch seine Botschaft blieb, nachdem er fort war: Diese Morde hatten nichts mit ihm zu tun. Sie dachte darüber nach. Konnte es dann nicht auch möglich sein, dass sie nichts mit Colossus zu tun hatten? Und wenn das der Fall war, war es dann nicht wahr, dass sie bei dem Versuch, innerhalb der Organisation einen Mörder zu entlarven, einen Suchscheinwerfer auf sie alle richtete und die Polizei dazu brachte, im Privatleben eines jeden herumzuschnüffeln? Und wenn sie das tat, verleitete sie die Polizei dann nicht, das zu übersehen, was auf den wirklichen Mörder hinwies, der weiterhin morden würde, wenn die Lust ihn überkam? Die Wahrheit war, dass es noch eine Verbindung zwischen den Jungen geben musste, die außerhalb von Colossus zu suchen war. Die Polizei hatte das bislang nicht eingesehen, aber das würde sie noch, definitiv. Wenn es Ulrike nur gelang, sie auf Distanz zu halten, damit die Beamten nicht ständig in Elephant and Castle herumschnüffelten.
Kein Mensch war auf der Straße, als Lynley in Kentish Town in die Lady Margaret Road einbog. Er nahm den ersten Parkplatz, den er fand - vor einer katholischen Kirche an der Ecke -, und ging dann zu Fuß die Straße entlang auf der Suche nach Havers. Er fand sie rauchend vor Barry Minshalls Zuhause.
»Er hat einen Pflichtverteidiger verlangt, sobald ich ihn auf die Wache gebracht hatte«, sagte sie und reichte ihm ein Foto in einer Beweistüte.
Lynley betrachtete es. Es zeigte genau das, was Havers ihm am Telefon schon so anschaulich beschrieben hatte. Analverkehr und Fellatio. Der Junge war vielleicht zehn Jahre alt.
Lynley fühlte sich elend. Es hätte jedes Kind, überall und zu jedem beliebigen Zeitpunkt sein können, und die Männer, die sich mit ihm vergnügten, waren vollkommen gesichtslos. Aber genau das war ja der Punkt, nicht wahr? Der Trieb war der einzige Wesenszug von Bestien. Er gab Havers das Foto zurück und wartete, bis sein Magen sich beruhigt hatte, ehe er das Haus in Augenschein nahm.
Das Anwesen Lady Margaret Road Nr. 16 war ein trauriger Anblick: ein aus Ziegeln und Naturstein gemauertes dreigeschossiges Haus mit Souterrain, das dringend eines neuen Anstrichs bedurft hätte. Es gab keine offizielle Hausnummer an der Tür oder den rechteckigen Pfeilern, die das Vordach trugen, vielmehr war die 16 mit einem Marker an einen dieser Pfeiler geschrieben worden und darunter die Buchstaben A,B,C und D, neben denen auf- und abwärts zeigende Pfeile andeuteten, wo die entsprechenden Wohnungen zu finden waren, im Souterrain oder in den Stockwerken. Eine von Londons hohen Platanen stand auf dem Gehweg und hatte in dem kleinen Vorgarten einen Teppich aus welken Blättern ausgebreitet, dick wie eine Matratze. Das Laub bedeckte alles: von dem niedrigen, windschiefen Begrenzungsmäuerchen, dem schmalen Pfad zur Eingangstreppe bis zu den fünf Stufen selbst, die zu einer blauen Haustür führten. Zwei vertikale Milchglasscheiben waren in die obere Hälfte eingesetzt, von denen eine mehrere Risse aufwies, die geradezu einluden, sie gänzlich zu zertrümmern. Ein Türknauf war nicht vorhanden, und das Holz im Bereich des Schlosses war abgegriffen von unzähligen Händen, die die Tür nach innen gedrückt hatten.
Minshall wohnte in Wohnung A im Souterrain. Der Zugang führte über eine Treppe an der Seite des Hauses und dann einen schmalen Gang entlang, wo sich das Regenwasser in Pfützen sammelte und Schimmel die Hauswand hinaufkroch. Direkt vor der Tür stand ein Vogelkäfig. Tauben. Sie gurrten leise, als sie jemanden wahrnahmen.
Lynley hatte die Durchsuchungsbeschlüsse, Havers die Schlüssel. Sie reichte sie ihm und ließ ihm den Vortritt. Sie traten ein und fanden sich in vollkommener Dunkelheit.
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