13 - Wo kein Zeuge ist
diesem Fall Colossus - und ihre genauso betuchten Freunde nötigten, das Gleiche zu tun. Deswegen nahmen sie ihre Verantwortung ernster, als Ulrike lieb war. Ihre monatlichen Treffen im Oxo Tower schleppten sich über Stunden dahin, während derer über jeden Penny Rechenschaft abgelegt wurde und weitschweifige Zukunftspläne gefasst wurden.
Heute war die Besprechung schlimmer als sonst. Die Stifter schlitterten am Rand eines Abgrundes entlang, ohne es zu bemerken, während sie ihr Möglichstes tat, diese Tatsache geheim zu halten. Denn ihr langfristiges Ziel, genügend Geld zu sammeln, um eine Niederlassung in Nordlondon zu gründen, würden sie nie erreichen, wenn Colossus in irgendeinen Skandal verwickelt wurde. Und auch jenseits des Flusses war der Bedarf für Colossus wahrhaft groß. Kilburn, Cricklewood, Shepherd's Bush, Kensal Rise. Benachteiligte Jugendliche lebten dort einen Alltag, der von Drogen, Schießereien und Raubüberfällen geprägt war. Colossus konnte ihnen eine Alternative zu einem Leben bieten, das in die Sucht, zu Geschlechtskrankheiten, in den Strafvollzug oder einen frühen Tod führte, und sie hatten die Chance verdient, zu erfahren, was Colossus anzubieten hatte.
Doch damit dies Wirklichkeit werden konnte, war es von größter Bedeutung, dass es keine Verbindung zwischen der Organisation und einem Mörder gab. Und diese Verbindung gab es auch nicht, bis auf den Zufall, dass fünf problematische Jugendliche gestorben waren, die, aus welchen Gründen auch immer, beschlossen hatten, den Kursen und Aktivitäten von Colossus fernzubleiben. Davon war Ulrike überzeugt, denn sie hätte keinen anderen Weg einschlagen und weiterhin mit sich selbst leben können.
Also bemühte sie sich während des endlosen Meetings, kooperativ zu erscheinen. Sie nickte, machte sich Notizen und murmelte Kommentare wie »Großartige Idee« oder »Ich werde mich umgehend darum kümmern«. Auf diese Art und Weise brachte sie wieder einmal eine erfolgreiche Zusammenkunft mit dem Vorstand hinter sich, bis einer von ihnen schließlich den ersehnten Vorschlag machte, die Sitzung zu beenden.
Sie war mit dem Fahrrad zum Oxo Tower gefahren und hastete nun zu ihm hinunter. Es war nicht weit nach Elephant and Castle, doch die engen Straßen und die Dunkelheit machten den Weg tückisch. Eigentlich hätte sie die Plakate am Zeitungskiosk gar nicht sehen dürfen, als sie die Waterloo Road hinabradelte. Doch die Worte »Sechster Mordfall!« sprangen sie förmlich an, und sie bremste scharf und lenkte das Fahrrad an den Bordstein.
Ihr Herz schien sich zu verkrampfen, als sie hinging und sich eine Ausgabe des Evening Standard schnappte. Sie las bereits, während sie ein paar Münzen aus dem Portemonnaie fischte und dem Verkäufer reichte.
Mein Gott, mein Gott. Sie konnte es einfach nicht glauben. Schon wieder eine Leiche. Schon wieder ein Junge. Dieses Mal in Nordlondon, in Queen's Wood. Heute Morgen entdeckt. Er war noch nicht identifiziert - zumindest hatte die Polizei keinen Namen veröffentlicht -, also durfte man noch hoffen, dass dies ein Zufall war und der Mord keine Verbindung zu den anderen fünf Morden hatte ... Nur konnte Ulrike sich das nicht wirklich einreden. Das Alter war ähnlich: Die Zeitung beschrieb das Opfer als »jungen Heranwachsenden«, und offenbar wusste die Presse, dass er nicht aufgrund natürlicher Umstände oder bei einem Unfall gestorben war, denn sie nannte es »Mord«. Aber trotzdem, war es nicht möglich ...?
Dieser Mord durfte einfach nichts mit Colossus zu tun haben. Sie klammerte sich an diese Hoffnung. Und wenn doch, musste sie unmissverständlich den Anschein erwecken, als helfe sie der Polizei mit all ihren Möglichkeiten. In einer solchen Situation gab es einfach keinen Mittelweg. Sie konnte versuchen, Zeit zu gewinnen oder irgendwelche Spuren zu verwischen, aber das würde das Unvermeidliche nur aufschieben, wenn sie einen Mörder eingestellt und dann nichts unternommen hatte, um ihn zur Strecke zu bringen. Wenn das der Fall war, dann war sie erledigt. Und Colossus wahrscheinlich auch.
Als sie nach Elephant and Castle zurückkam, ging sie geradewegs zu ihrem Büro. Sie durchwühlte ihre oberste Schreibtischschublade auf der Suche nach der Karte, die dieser Scotland-Yard-Beamte ihr gegeben hatte. Sie wählte die Nummer, doch man sagte ihr, er sei in einer Besprechung und dürfe nicht gestört werden. Wollte sie eine Nachricht hinterlassen, oder konnte ihr jemand anderes helfen ...?
Ja,
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