13 - Wo kein Zeuge ist
fest, dass er es irritierend fand, jemanden zu vernehmen, dessen Augen von dunklen Gläsern geschützt wurden, aber er zwang sich, auf andere Indikatoren zu achten: auf die Bewegung des Adamsapfels, das Zucken der Finger, die Veränderungen der Körperhaltung.
»Ich habe meinen Stand wie üblich um halb sechs zugemacht. Zweifellos kann John Miller, der Badesalzhändler, das bestätigen, weil er immer jede Menge Zeit damit verbringt, die Kinder zu beobachten, die an meinem Stand herumlungern. Von dort bin ich in einen Imbiss unweit meiner Wohnung gegangen, wo ich regelmäßig zu Abend esse. Er heißt Sofia's Sofa, obwohl es keine Sofia gibt, und die Gemütlichkeit, die das Wort Sofa suggerieren soll, sucht man auch vergeblich. Aber die Preise sind in Ordnung, und man lässt mich dort in Frieden, und das ist es, worauf es mir ankommt. Von da bin ich nach Hause gegangen. Später hab ich das Haus noch einmal kurz verlassen, um Milch und Kaffee zu kaufen. Das war alles.«
»Und die Abendstunden, die Sie zu Hause verbracht haben?«, fragte Lynley.
»Was soll damit sein?«
»Was haben Sie gemacht? Videos angesehen? Im Internet gesurft? Zeitschriften gelesen? Gäste empfangen? Zaubertricks trainiert?«
Darüber musste er ein Weilchen nachdenken. Schließlich sagte er: »Na ja, soweit ich mich erinnere ...«, und dafür brauchte er wieder eine geraume Zeit. Zu lang, für Lynleys Geschmack. Was Minshall zweifellos beschäftigte, war die Frage, wie viel die Polizei nachprüfen konnte, je nachdem, was er behauptete, mit seiner Zeit getan zu haben. Telefonate? Darüber gab es Nachweise. Handy? Ebenso. Internet? Der Computer speicherte die Zeiten. Ein Bier im Pub an der Ecke? Dafür gäbe es Zeugen. In Anbetracht des Zustands seiner Wohnung konnte er schwerlich behaupten, er sei mit einem Hausputz beschäftigt gewesen. Also blieb das Fernsehen - und in dem Fall müsste er in der Lage sein, die Titel der angeschauten Sendungen zu nennen -, seine Zeitschriften oder Videos.
Schließlich sagte er: »Es war ein kurzer Abend. Ich habe ein Bad genommen und bin gleich im Anschluss ins Bett gegangen. Ich schlafe nicht sehr gut, und manchmal macht sich das bemerkbar, also leg ich mich früh hin.«
»Allein?« Die Frage kam von Havers.
»Allein«, antwortete Minshall.
Lynley holte die Polaroidfotos hervor, die sie in seiner Wohnung gefunden hatten. Er sagte: »Erzählen Sie uns etwas über diese Jungen, Mr. Minshall.«
Minshall senkte den Blick auf die Bilder. Nach einem Moment sagte er: »Das müssen die Preisgewinner sein.«
»Preisgewinner?«
Minshall zog den Plastikbehälter mit den Polaroids näher zu sich heran. »Geburtstagspartys. Auch damit bestreite ich meinen Lebensunterhalt, zusätzlich zu dem Marktstand. Ich schlage den Eltern vor, ein Gewinnspiel für die Kinder auszurichten, und was Sie hier sehen, ist der Preis.«
»Der woraus besteht?«
»Aus einem Zaubererkostüm. Ich lasse sie in Limehouse herstellen, falls Sie die Adresse haben wollen.«
»Die Namen dieser Jungen? Und warum ist der Sieger immer ein Junge? Treten Sie nie vor Mädchen auf?«
»Es gibt tatsächlich nicht viele Mädchen, die sich für Zauberei interessieren. Es hat keine solche Anziehungskraft auf sie wie auf Jungen.« Minshall gab vor, die Fotos nochmals eingehend zu studieren. Er hielt sie näher an sein Gesicht, als normal gewesen wäre. Dann schüttelte er den Kopf und legte die Bilder zurück auf den Tisch. »Vielleicht habe ich ihre Namen mal gewusst, aber jetzt sind sie weg. Bei einigen Jungen glaube ich nicht einmal, dass ich die Namen je gekannt habe. Ich frage nicht immer danach. Ich habe nie damit gerechnet, dass ich einmal aufgefordert würde, sie zu nennen. Ganz sicher nicht von der Polizei.«
»Warum haben Sie sie überhaupt fotografiert?«
»Um die Bilder den Eltern zu zeigen, die eine Party arrangieren wollen«, antwortete er. »Zu Werbezwecken, Superintendent. Keine finsteren Absichten dahinter.«
Geschickt, dachte Lynley. Das musste man Minshall zugestehen. Der Zauberer hatte die Nacht, die er in einer Zelle der Holmes-Street-Wache verbracht hatte, nicht ungenutzt verstreichen lassen. Aber all seine Redegewandtheit ließ ihn nur umso schuldiger wirken. Ihr Job war es jetzt, einen Riss in der selbstsicheren Fassade zu finden.
»Mr. Minshall«, sagte Lynley. »Wir können beweisen, dass Davey Benton an Ihrem Stand war und dort Handschellen gestohlen hat. Wir haben einen Zeugen, der gesehen hat, wie Sie ihn dabei erwischt
Weitere Kostenlose Bücher