13 - Wo kein Zeuge ist
dieser beiden Zeichnungen ähnlich sieht. Oder wir können die ganze Angelegenheit in die Länge ziehen und Sie für ein Weilchen mit zur Polizeiwache an der Earls Court Road nehmen.«
»Falls er mit ihm weggegangen ist«, fügte Barbara hinzu.
»Ich weiß nichts«, antwortete Tatlises. Er klopfte an die Tür von Zimmer Nummer einundvierzig. Sein Neffe öffnete so schnell, dass klar war, er hatte hinter der Tür gestanden und jedes Wort mit angehört. Tatlises sprach hastig in ihrer Sprache auf ihn ein. Seine Stimme war laut. Er zerrte den Jungen an der Pyjamajacke auf den Flur hinaus, schnappte sich die Phantombilder und Fotos und zwang den jungen Mann, sie zu betrachten.
Nette Vorstellung, dachte Barbara. Er wollte ihnen tatsächlich weismachen, sein Neffe und nicht er selbst sei der Pädophile hier. Sie schaute zu Lynley, um seine Erlaubnis einzuholen. Er nickte. Entschlossen trat sie näher.
»Jetzt hör'n Sie mal zu, Sie kleiner Wichser«, sagte sie zu Tatlises und packte seinen Arm. »Wenn Sie glauben, dass wir auf den Wagen springen, den Sie hier fahren, sind Sie noch dämlicher, als Sie aussehen. Lassen Sie ihn gefälligst zufrieden, sagen Sie ihm nur, er soll unsere Fragen beantworten. Und das werden Sie auch tun. Kapiert? Oder muss ich Ihnen auf die Sprünge helfen?« Sie ließ ihn los, aber erst, nachdem sie seinen Arm ein wenig verdreht hatte.
Tatlises verfluchte sie in seiner Sprache, oder jedenfalls nahm sie das angesichts seines Tonfalls und des Ausdrucks auf dem Gesicht seines Neffen an. Schließlich sagte er zu ihnen beiden: »Dafür werde ich Sie anzeigen.«
»Ich mach mir in die Hose vor Angst«, antwortete Barbara. »Und jetzt dolmetschen Sie für Ihren ›Neffen‹, oder was immer er in Wahrheit ist. Dieser Junge ... War er hier?«
Tatlises rieb seinen malträtierten Arm. Barbara rechnete damit, dass er etwas von »unzumutbarer Polizeibrutalität« faseln würde, so wehleidig, wie er sich anstellte. Doch er sagte lediglich: »Ich arbeite nachts nicht.«
»Wunderbar. Aber er. Also sagen Sie ihm, er soll antworten.«
Tatlises nickte seinem »Neffen« zu. Der jüngere Mann betrachtete das Foto und nickte dann ebenfalls.
»Schön. Und jetzt der Rest, okay? Haben Sie ihn das Hotel verlassen sehen?«
Der Neffe nickte. »Er geht mit andere Mann. Ich hab gesehen. Nicht der Albin-Mann, wie sagen Sie?«
»Nicht mit dem Albino, dem Mann mit gelblichen Haaren und weißer Haut.«
»Der andere, ja.«
»Und das haben Sie gesehen? Die beiden? Zusammen? Ging der Junge ohne Hilfe? Hat er gesprochen? Lebte er noch?«
Die letzten Worte veranlassten die beiden zu einem Redeschwall in ihrer Sprache. Dann fing der Neffe an zu heulen. »Ich nix machen«, jammerte er. »Ich nix machen.« Und ein dunkler Fleck erschien im Schritt seiner Schlafanzughose. »Er geht mit andere Mann. Ich hab gesehen. Ich hab gesehen.«
»Was hat das zu bedeuten?«, fuhr Lynley Tatlises an. »Haben Sie ihn beschuldigt?«
»Taugenichts! Taugenichts!«, rief Tatlises und ohrfeigte seinen Neffen. »Für welche Machenschaften missbrauchst du dieses Hotel? Hast du gedacht, du würdest nicht erwischt?«
Der Junge legte schützend die Arme um den Kopf und jammerte: »Ich nix machen!«
Lynley trennte die Männer, und Barbara stellte sich zwischen sie und sagte: »Jetzt hören Sie mal zu und tätowieren sich das ins Hirn: Dieser Mann hat den Jungen ins Hotel gebracht, und dieser ist mit ihm weggegangen. Sie können mit dem Finger aufeinander zeigen, so viel Sie wollen, aber es gibt keine Ratte in diesem Hotel, die nicht wegen Zuhälterei, Pädophilie und jedem anderen Vergehen, das wir Ihnen nachweisen können, belangt wird. Darum schätze ich, Sie wären gut beraten, sich um einen kooperativen Gesamteindruck zu bemühen.«
Sie sah, dass sie verstanden worden war. Tatlises ließ von seinem Neffen ab. Der junge Mann wich in sein Zimmer zurück. Beide wurden vor ihren Augen geläutert. Tatlises mochte ein fragwürdiges Arrangement mit seinen MABIL-Freunden bezüglich der Benutzung des Canterbury Hotels haben, und er mochte eine Stange Geld dafür kassieren, dass er die Hotelzimmer für homosexuelle Handlungen an Minderjährigen zur Verfügung stellte, aber es hatte den Anschein, dass er vor Mord Halt machte.
Er sagte: »Dieser Junge ...«, und griff nach dem Foto von Davey Benton.
»Genau«, erwiderte Barbara.
»Wir sind relativ sicher, dass er dieses Gebäude lebend verlassen hat«, klärte Lynley ihn auf. »Aber es ist auch
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