13 - Wo kein Zeuge ist
achtete darauf, sie nicht zu berühren.
Dann sagte er: »Ich muss diesen Anruf annehmen. Ich hoffe, eines Tages bist du es, die anruft, Yas.« Er war ihr näher, als sie bisher je zugelassen hatte. Er konnte ihren Duft wahrnehmen, und er spürte ihre Furcht. Er verließ den Laden, und während er zu seinem Auto zurückging, hob er das Telefon ans Ohr.
Die Stimme am Telefon war ihm ebenso unbekannt wie der Name. »Hier ist Gigi«, sagte eine junge Frau. »Sie haben doch gesagt, ich soll Sie anrufen.«
»Wer?«, fragte er.
»Gigi«, wiederholte sie. »Von Gabriel's Wharf. Crystal Moon, wissen Sie noch?«
Der Name brachte die Erinnerung zurück, wofür er dankbar war. »Gigi. Natürlich. Was gibt es?«
»Robbie Kilfoyle war hier.« Sie senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Er hat was gekauft.«
»Haben Sie was Schriftliches darüber?«
»Ich hab den Kassenbon. Liegt genau vor mir.«
»Passen Sie gut darauf auf«, bat Nkata. »Ich bin unterwegs.«
Lynley schickte Mitchell Corsico eine Nachricht, gleich nachdem er mit St. James gesprochen hatte: Der in die Ermittlungen eingebundene, unabhängige Forensikexperte wäre ausgesprochen gut für das zweite Porträt in der Source geeignet, ließ er ihn wissen. Er war nicht nur ein international anerkannter Sachverständiger und Dozent des Royal College of Science, sondern er und Lynley hatten eine gemeinsame Geschichte, die in Eton begonnen und die Jahre seither überdauert hatte. War Corsico der Ansicht, ein Interview mit St. James wäre lohnend? Dieser Ansicht war der Reporter in der Tat, und Lynley gab ihm Simons Nummer. Lynley hoffte, damit würden Corsico, sein Stetson und seine Cowboystiefel vorläufig verschwinden. Außerdem würde dafür gesorgt sein, dass die restlichen Teammitglieder vorläufig vor dem Journalisten ihre Ruhe hatten.
Er fuhr zur Victoria Street zurück, und verschiedene Details der letzten Stunden spukten ihm durch den Kopf. Eines kam ihm besonders häufig in den Sinn, etwas, das Havers am Telefon gesagt hatte.
Der Name auf dem Mietvertrag bei dem Immobilienmakler - der einzige Name, abgesehen von Barry Minshalls, den sie mit MABIL in Zusammenhang bringen konnten - lautete J. S. Mill, hatte Havers ihm berichtet. Er hatte ihr den Zusammenhang erklärt, doch das war ihr inzwischen selbst klar geworden: J. S. Mill. Der Schriftsteller John Stuart Mill, wenn man davon ausging, dass der Deckname auf dem Anmeldeformular des Canterbury Hotels in ein Schema passte.
Lynley hätte gerne geglaubt, dass all das Teil eines literarischen Scherzes unter den Mitgliedern der Pädophilenorganisation war. Eine Art Ohrfeige für die ungewaschene, unbelesene und ungebildete Masse. Oscar Wilde auf der Anmeldung des Canterbury Hotel. J. S. Mill auf dem Mietvertrag mit Taverstock & Percy. Gott allein mochte wissen, wen sie sonst noch auf Dokumenten, die mit MABIL zu tun hatten, finden würden. A. A. Milne vielleicht. G. K. Chesterton. A. C. Doyle. Die Möglichkeiten waren schier endlos.
Ebenso wie die Millionen von Zufällen, die sich Tag für Tag ereigneten. Und dennoch ging ihm der Name nicht aus dem Sinn und schien ihn zu verhöhnen. J. S. Mill. Fang mich doch. John Stuart Mill. John Stuart. John Stewart.
Es hatte keinen Sinn, es zu leugnen: Lynley hatte ein Kribbeln in den Handflächen gespürt, als Havers ihm den Namen durchgab. Dieses Kribbeln führte zu der Frage, die ein kluger Mensch bei der Polizeiarbeit, aber auch im täglichen Leben immer wieder stellen musste: Wie gut können wir einen anderen überhaupt kennen? Wie oft bestimmen Äußerlichkeiten - inklusive Sprache und Benehmen - unsere Einschätzung eines anderen Menschen?
Ich brauche dir nicht zu sagen, was das bedeutet, oder? Lynley sah immer noch den ernsten, besorgten Ausdruck auf St. James' Gesicht.
Lynleys Antwort hatte ihn an Orte geführt, wohin er nicht hatte gehen wollen. Nein, du brauchst mir gar nichts zu sagen.
Worauf es hinauslief, war die Bitte, den Kelch an ihm vorübergehen zu lassen und ihn an jemand anderen weiterzugeben, aber das würde nicht geschehen. Er war zu weit vorgedrungen, war »einmal so tief in Blut gestiegen«, und er konnte keinen einzigen seiner Schritte rückgängig machen. Er musste diese Ermittlung zu Ende führen, ganz gleich, wohin jede einzelne ihrer Verästelungen führte. Und es gab eindeutig mehr als einen Ast in dieser Sache. Das wurde allmählich offensichtlich.
Eine zwanghafte Persönlichkeit, ja, dachte er. Von Dämonen getrieben? Er wusste es
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