13 - Wo kein Zeuge ist
sein mögen!«, was Ulrike veranlasste, den Deckel fallen zu lassen und beschämt zu warten, bis die Tür sich öffnete.
Als das schließlich geschah, stand sie Auge in Auge einer zerfurchten und äußerst verstimmten alten Dame gegenüber. Ihr Gesicht war von kleinen, weißen Löckchen umrahmt, die mitsamt dem zierlichen Körper vor Empörung bebten. Oder zumindest sah es so aus, bis Ulrike den Blick senkte und die Gehhilfe sah, an der die alte Dame sich festhielt. Sie begriff, dass nicht Zorn, sondern eine Schüttellähmung, Parkinson oder Ähnliches, das Zittern verursachte.
Hastig entschuldigte sie sich und stellte sich vor. Sie erwähnte Colossus. Sie erwähnte Jacks Namen. War es möglich, ein Wort mit Mrs ...? Sie zögerte. Wer, zum Henker, war diese Frau?, fragte sie sich. Das hätte sie rauskriegen sollen, ehe sie bei ihr klingelte.
Mary Alice Atkins-Ward, stellte die alte Dame sich vor. Und es musste »Miss« heißen, worauf sie stolz war, vielen herzlichen Dank auch. Sie klang steif - eine Seniorin, die sich noch an die gute alte Zeit erinnerte, als der Umgang miteinander von höflicher Rücksichtnahme an den Bushaltestellen geprägt war und Männer in der U-Bahn für Damen ihre Plätze räumten. Sie hielt die Tür auf und manövrierte sich ein paar Schritte zurück, sodass Ulrike eintreten konnte. Das tat sie dankbar.
Sie fand sich in einem engen Flur, der großteils von der Treppe in Anspruch genommen wurde. An den Wänden hingen zahllose Fotografien, und während Miss A.-W. - wie Ulrike sie in Gedanken zu nennen begann - in ein Wohnzimmer mit Aussicht auf die Straße ging, warf Ulrike einen verstohlenen Blick auf die Bilder. Es waren ausnahmslos Aufnahmen von Fernsehproduktionen, stellte sie fest. Hauptsächlich von Historienfilmen der BBC, aber auch ein paar Kriminalfilme fanden sich dazwischen.
Ulrike bemühte sich um einen freundlichen Tonfall, als sie fragte: »Sie schauen gern Fernsehen?«
Miss A.-W. warf ihr über die Schulter einen verächtlichen Blick zu, während sie das Wohnzimmer durchquerte und sich in einem Schaukelstuhl aus Holz und Rattangeflecht niederließ, auf dem nicht ein einziges weiches Kissen lag. »Wovon, in Gottes Namen, reden Sie da?«
»Die Fotografien im Flur?« Ulrike war nie zuvor einem Menschen begegnet, mit dem sie weniger klarkam.
»Ach, die? Ich hab sie geschrieben, Sie Gans«, lautete Miss Atkins-Wards schneidende Antwort.
»Geschrieben?«
»Geschrieben. Ich bin Drehbuchautorin, Herrgott noch mal. Das sind alles meine Produktionen. Also, was wollen Sie?« Sie bot ihrer Besucherin nichts an, keine Erfrischung, keinen Tee, keine wehmütigen Anekdoten. Sie war ein zäher alter Drachen, dachte Ulrike, und es würde nicht leicht sein, ihr etwas vorzumachen.
Trotzdem musste sie es versuchen. Es gab keine Alternative. Sie erklärte der Frau, dass sie mit ihr über ihren Mieter sprechen wolle.
»Welchen Mieter?«, fragte Miss A.-W.
»Jack Veness?«, erinnerte Ulrike sie. »Er arbeitet bei Colossus. Ich bin seine ... na ja, seine Vorgesetzte, könnte man sagen.«
»Er ist kein Mieter, sondern mein Großneffe. Ein nichtsnutziger kleiner Mistkerl, aber er musste ja irgendwohin, nachdem seine Mutter ihn vor die Tür gesetzt hat. Er hilft bei der Hausarbeit und mit den Einkäufen.« Sie rückte sich auf ihrem Schaukelstuhl zurecht. »Hören Sie, ich werde jetzt eine Zigarette rauchen, Missy. Ich hoffe, Sie sind keine von diesen militanten Nichtrauchern. Falls doch, haben Sie Pech gehabt. Mein Haus, meine Lunge, mein Leben. Bitte reichen Sie mir das Streichholzbriefchen herüber. Nein, nein, Sie Gänschen, nicht dort drüben. Sie liegen direkt vor Ihnen.«
Ulrike fand die Streichhölzer zwischen allerhand Krimskrams auf einem Beistelltisch. Das Briefchen war vom Park Lane Hotel, wo Miss A.-W. das Personal vermutlich so gründlich eingeschüchtert hatte, dass man ihr die Streichhölzer gleich palettenweise gebracht hatte.
Sie wartete, bis die alte Dame aus der Tasche ihrer Strickjacke eine Zigarette hervorgeholt hatte. Sie rauchte filterlose - was keine Überraschung war - und hielt die brennende Zigarette wie eine Filmdiva aus alten Zeiten zwischen den Fingern. Dann zupfte sie einen Tabakkrümel von der Zunge, betrachtete ihn und schnipste ihn über die Schulter.
»Also, was ist mit Jack?«, fragte sie.
»Wir denken darüber nach, ihn zu befördern«, antwortete Ulrike mit einem, wie sie hoffte, einschmeichelnden Lächeln. »Und bevor jemand befördert wird,
Weitere Kostenlose Bücher