13 - Wo kein Zeuge ist
geröteten Hand. »Der Junge ist kein Problem«, antwortete er. »Dieses Bild ist in der heutigen Ausgabe des Evening Standard. Es wird morgen früh auf der Titelseite jeder Zeitung zu sehen sein, außerdem heute und morgen in den Fernsehnachrichten. Wir werden ihn kriegen, und zwar bald, schätze ich. Und wenn wir ihn haben, wird er reden, und dann kriegen wir auch den anderen. Daran besteht, verdammt noch mal, nicht der geringste Zweifel.«
»Ich bin ... Das ist gut«, erwiderte sie. »Die arme Frau.«
Und das meinte sie auch so. Niemand - ganz gleich, wie reich, privilegiert, adlig, verwöhnt oder sonst irgendetwas - verdiente, auf der Straße niedergeschossen zu werden. Sie stellte fest, dass Nächstenliebe und Mitgefühl sie doch noch nicht gänzlich verlassen hatten, selbst wenn es um Angehörige der Oberschicht in dieser rigiden Gesellschaft ging, in der sie lebte. Doch gleichzeitig war sie erleichtert, dass Colossus mit diesem neuerlichen Verbrechen nicht in Verbindung gebracht werden konnte.
Aber nun waren Mr. Bensley und Mrs. Richie hier und saßen mit ihr in ihrem Büro - ein zusätzlicher Stuhl war aus der Rezeption herbeigeholt worden -, und sie waren entschlossen, über genau das Thema zu reden, das sie mit so großer Mühe von ihnen fern zu halten versucht hatte.
Bensley war derjenige, der es zur Sprache brachte. »Berichten Sie uns von den toten Jungen, Ulrike«, sagte er.
Sie konnte schwerlich unschuldig tun und irgendetwas antworten wie: »Welche Jungen meinen Sie?« Ihr blieb nichts anderes übrig, als ihnen zu sagen, dass fünf Jungen von Colossus seit September ermordet und ihre Leichen an verschiedenen Orten in London aufgefunden worden waren.
»Warum wurden wir nicht informiert?«, fragte Bensley. »Warum musste diese Information von außen an uns herangetragen werden?«
»Von Neil, meinen Sie«, konnte Ulrike sich nicht verkneifen zu sagen. Sie war hin- und hergerissen zwischen dem Bedürfnis, sie wissen zu lassen, dass ihr die Identität des Judas' bekannt war, und der Notwendigkeit, sich zu verteidigen. Also fuhr sie fort: »Ich habe selbst nichts davon gewusst, bis Kimmo Thorne ermordet wurde. Er war das vierte Opfer. Da ist die Polizei zum ersten Mal hergekommen.«
»Aber davon abgesehen ...?« Bensley rückte die Krawatte mit einer Geste zurecht, die ein Ausmaß von Ungläubigkeit ausdrückte, das ihn zu strangulieren drohte. Mrs. Richie begleitete dies mit einem vernehmlichen Klicken der Zähne. »Wie kommt es, dass Sie vom Tod der anderen Jungen nichts wussten?«
»Oder auch nur, dass sie vermisst wurden«, fügte Mrs. Richie hinzu.
»Unser Organisationsablauf sieht nicht vor, dass wir die Anwesenheit unserer Teilnehmer kontrollieren«, sagte Ulrike, als sei ihnen dies nicht schon mindestens tausend Mal erklärt worden. »Sobald ein Junge oder Mädchen den Einstufungskurs absolviert hat, steht ihnen frei, zu kommen und zu gehen, wie es ihnen beliebt. Sie können an den Aktivitäten teilnehmen, die wir zu bieten haben, oder fernbleiben. Wir wollen, dass sie aus freien Stücken hierher kommen. Nur diejenigen, die vom Jugendgericht hergeschickt werden, haben eine Anwesenheitspflicht, die überwacht wird.«
Und selbst diese Kids wurden nicht sofort von Colossus angeschwärzt, wenn sie mal wegblieben. Auch ihnen ließen sie innerhalb gewisser Grenzen einen Freiraum, sobald der Einstufungskurs vorüber war.
»Wir haben damit gerechnet, dass Sie das sagen würden«, erwiderte Bensley.
Oder man hat euch geraten, damit zu rechnen, dachte Ulrike. Neil hatte sein Bestes gegeben: Sie wird Ausflüchte vorbringen, aber es bleibt eine Tatsache, dass die Leiterin von Colossus es doch wohl, verdammt noch mal, wissen sollte, was mit den Kindern los ist, denen Colossus helfen soll, finden Sie nicht? Ich meine, das würde doch keinen großen Aufwand bedeuten, einmal kurz in den Kursen vorbeizuschauen und die Kursleiter zu fragen, wer anwesend ist und wer schwänzt. Und wäre es nicht ratsam, dass die Leiterin von Colossus zum Telefon greift und versucht, einen Jugendlichen ausfindig zu machen, der aus einem Programm ausgeschieden ist, das entwickelt wurde - und finanziert, das wollen wir nicht vergessen -, um genau dieses Verhalten zu vermeiden. O ja, Neil hatte sein Allerbestes gegeben, das musste Ulrike ihm lassen.
Ihr fiel keine passende Antwort auf Bensleys Bemerkung ein, also wartete sie darauf, zu hören, weshalb der Vorsitzende und seine Begleiterin tatsächlich hergekommen waren. Sie
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