13 - Wo kein Zeuge ist
der Straße erschossen worden. Die Mutter hat sich mit irgendwas das Hirn getoastet und ist schon seit einiger Zeit von der Bildfläche verschwunden. Die Schwester hat sich an einem Straßenraub versucht und ist vor dem Richter gelandet. Aber die Tante, bei denen sie jetzt wohnen, will nichts davon hören, dass die Kids auf dem besten Weg in den Jugendstrafvollzug sind. Sie hat einen Laden unten an der Straße, wo sie Vollzeit arbeitet, und einen jüngeren Freund, der sie im Schlafzimmer auf Trab hält, also kann sie sich nicht leisten, sich um das zu kümmern, was sich vor ihrer Nase abspielt. Es war immer nur eine Frage der Zeit. Das haben wir versucht, ihr klar zu machen, als wir den Jungen zum ersten Mal hier hatten, aber sie wollte nichts davon hören. Es ist immer die gleiche Geschichte.«
»Früher hat er geredet, sagten Sie?«, fragte Barbara. »Wie steht es jetzt?«
»Wir haben kein Wort aus ihm rausgekriegt.«
»Überhaupt nichts?«, fragte Nkata.
»Kein Sterbenswörtchen. Er hätte uns vermutlich nicht mal seinen Namen gesagt, wenn wir den nicht schon gewusst hätten.«
»Wie heißt er?«
»Joel Campbell.«
»Wie alt?«
»Zwölf.«
»Hat er Angst?«
»O ja. Ich würde sagen, ihm ist klar, dass er hierfür hinter Gitter kommt. Aber natürlich weiß er auch alles über Venables und Thompson. Das weiß ja leider jeder. Also sechs Jahre Bauklötze und Fingerfarbe und Gesprächstherapie, und dann ist er fertig mit dem Strafvollzug.«
Er hatte nicht ganz Unrecht. Es war ein moralisches und ethisches Dilemma dieser Zeit: Was sollte man mit jugendlichen Mördern anfangen? Zwölfjährige Mörder. Und jüngere.
»Wir würden gern mit ihm reden.«
»Was immer das nützt. Wir warten darauf, dass die Sozialarbeiterin wieder rauskommt.«
»War die Tante hier?«
»Ja, sie ist aber schon wieder weg. Sie will, dass wir ihn auf der Stelle laufen lassen oder ihr sagen, warum er hier ist. Aber das kann sie sich abschminken. Ihre Position war so unverrückbar wie unsere, darum hatten wir uns nicht viel zu sagen.«
»Anwalt?«
»Ich nehme an, die Tante kümmert sich gerade darum.«
Er forderte sie mit einem Wink auf, ihm zu folgen. Auf dem Weg zum Verhörzimmer kam ihnen eine abgespannt wirkende Frau in Sweatshirt, Jeans und Turnschuhen entgegen, die Sozialarbeiterin. Ihr Name war Fabia Bender, und sie berichtete Sergeant Starr, dass der Junge um etwas zu essen gebeten habe.
»Hat er darum gebeten, oder haben Sie es ihm angeboten?«, fragte Starr. Was natürlich heißen sollte: Hat er endlich den Mund aufgemacht und etwas gesagt?
»Er hat gebeten«, antwortete sie. »Mehr oder minder. ›Hunger‹, hat er gesagt. Ich würde ihm gern ein Sandwich holen.«
»Ich organisiere das«, versprach er. »Diese beiden hier wollen mit ihm sprechen. Kümmern Sie sich darum.«
Starr ließ Nkata und Barbara mit Fabia Bender zurück, die dem, was der Sergeant ihnen gesagt hatte, nicht viel hinzuzufügen hatte. Die Mutter des Jungen war in einer psychiatrischen Klinik in Buckinghamshire, wo sie während der vergangenen Jahre schon mehrfach gewesen war. Nach ihrer letzten Einweisung hatten die Kinder bei der Großmutter gelebt. Als die alte Dame mit ihrem Freund, der ausgewiesen worden war, nach Jamaika verschwunden war, hatte die Tante die Kinder aufgenommen. Es sei wirklich kein Wunder, dass Jugendliche in Schwierigkeiten gerieten, wenn ihre Lebensumstände so ungeordnet waren.
»Er ist hier drin.« Mit der Schulter drückte sie eine Tür auf. Sie trat als Erste ein und sagte: »Danke, Sherry« zu einer Beamtin, die offenbar bei dem Jungen geblieben war. Die Polizistin ging hinaus, und Barbara folgte Fabia Bender in den Raum. Nkata bildete das Schlusslicht, und dann standen sie vor dem mutmaßlichen Mörder von Helen Lynley.
Barbara sah Nkata an. Er nickte. Dies war der Junge, den er auf den Fotos der Überwachungskameras an der Cadogan Lane und der U-Bahn-Station Sloane Square gesehen hatte: derselbe Schopf drahtiger Locken, dasselbe Gesicht mit den keksgroßen Sommersprossen. Der Junge wirkte in etwa so bedrohlich wie ein Rehkitz, das im Scheinwerferlicht eines Autos gefangen war. Er war klein, und seine Fingernägel waren abgekaut.
Er saß an dem Verhörzimmertisch, und sie setzten sich zu ihm, Nkata und Barbara auf der einen, der Junge und die Sozialarbeiterin auf der anderen Seite. Fabia Bender teilte ihm mit, dass Sergeant Starr unterwegs sei, um ihm ein Sandwich zu holen. Irgendwer hatte ihm auch eine Cola
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