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13 - Wo kein Zeuge ist

13 - Wo kein Zeuge ist

Titel: 13 - Wo kein Zeuge ist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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gewesen. Nur Iris hatte protestiert, aber sie war auch als Letzte angekommen, und er verstand, dass es ihr unmöglich erschien, von ihrer Schwester getrennt zu werden.
    Der Spezialist war gekommen und wieder verschwunden. Er hatte die Ausdrucke und Berichte gelesen. Er hatte auf die Monitore geschaut und das Wenige untersucht, was man untersuchen konnte. Schließlich war er zu den versammelten Angehörigen gekommen, weil Lynley es so wollte. Insoweit ein Mensch überhaupt einem anderen gehören konnte, gehörte Helen ihm, weil sie seine Frau war. Aber sie war ebenso eine Tochter, eine geliebte Schwester, Schwägerin und Schwiegertochter. Ihr Verlust betraf sie alle. Er hatte diesen monströsen Schlag nicht allein erlitten, und er würde auch nie behaupten können, allein zu leiden. Also hatten sie alle mit dem italienischen Säuglingsneurologen zusammengesessen, der ihnen gesagt hatte, was sie bereits wussten.
    Zwanzig Minuten waren keine sehr lange Zeit. Zwanzig Minuten beschrieben eine Periode, in der gewöhnlich sehr wenig bewerkstelligt werden konnte. Tatsächlich gab es Tage, an denen Lynley in zwanzig Minuten nicht einmal von zu Hause zur Victoria Street gelangen konnte. Das Drittel einer Stunde war nicht genug Zeit, um viel zustande zu bringen, außer vielleicht duschen und anziehen oder eine Tasse Tee kochen und trinken oder abwaschen nach dem Abendessen oder die verblühten Rosen im Garten schneiden. Doch für das menschliche Gehirn waren zwanzig Minuten eine Ewigkeit. Es war »für immer«, das war die Art der Veränderung, die zwanzig Minuten in dem Leben herbeiführen konnten, das von der normalen Funktion des Gehirns abhing. Diese normale Funktion bedurfte einer regelmäßigen Versorgung mit Sauerstoff. »Das bezeugt das Opfer der Schussverletzung«, hatte der Arzt gesagt. »Das bezeugt Ihre Helen.«
    Das Problem war natürlich, dass man es nicht wissen konnte. Das wiederum hing damit zusammen, dass man nicht sehen konnte. Helen konnte man anschauen, täglich, stündlich, minütlich, leblos in ihrem Krankenhausbett. Das Baby - ihren Sohn, den sie spaßeshalber und bis seine unentschlossenen Eltern sich auf eine endgültige Lösung einigen konnten, Jasper Felix genannt hatten - konnte man nicht sehen. Alles, was sie wussten, war, was der Spezialist wusste, und was dieser wusste, gründete auf den wissenschaftlichen Erkenntnissen über das menschliche Gehirn.
    Wenn Helen keinen Sauerstoff bekam, bekam das Baby ebenfalls keinen Sauerstoff. Sie konnten auf ein Wunder hoffen, aber das war alles.
    Helens Vater hatte gefragt: »Wie wahrscheinlich ist ein solches ›Wunder‹?«
    Der Arzt schüttelte den Kopf. Er war mitfühlend, schien gütig und warmherzig. Aber er war nicht gewillt zu lügen.
    Nachdem der Spezialist sie verlassen hatte, schaute zuerst keiner von ihnen den anderen an. Sie alle spürten die Last, aber nur einer von ihnen trug die Bürde, eine Entscheidung treffen zu müssen. Lynley blieb mit dem Wissen zurück, dass alles bei ihm lag. Sie konnten ihn lieben - was sie auch taten und er auch spürte -, aber sie konnten ihm die Entscheidung nicht abnehmen.
    Jeder von ihnen sprach mit ihm, bevor sie das Krankenhaus für die Nacht verließen, jeder wusste, ohne dass es ausgesprochen worden war, dass die Zeit der Entscheidung gekommen war. Seine Mutter blieb länger als alle anderen. Sie kniete vor seinem Stuhl und schaute zu ihm auf.
    »Alle Dinge, die in unserem Leben passieren, führen zu all den anderen Dingen in unserem Leben«, sagte sie leise. »Ein Augenblick in der Gegenwart hat also einen Bezugspunkt sowohl in der Vergangenheit als auch in der Zukunft. Ich will, dass du weißt, dass du so, wie du jetzt bist und je sein wirst, diesem Augenblick gerecht wirst, Tommy. So oder so. Wo immer er hinführt.«
    »Ich frage mich, woher ich wissen soll, was ich tun muss«, erwiderte er. »Ich sehe ihr Gesicht an und versuche, darin zu erkennen, was sie wollen würde. Und dann frage ich mich, ob selbst das eine Lüge ist, ob ich mir vielleicht nur einrede, sie anzusehen, um zu erkennen, was sie von mir erwarten würde, während ich sie in Wahrheit einfach nur ansehe. Sie ansehe, weil ich dem Moment nicht ins Auge blicken kann, in dem ich nicht mehr in der Lage sein werde, sie anzusehen. Weil sie nicht mehr da sein wird. Nicht nur ihr Geist, sondern auch ihr Körper nicht mehr da sein wird. Denn jetzt in diesem Moment, verstehst du, gibt sie mir einen Grund, um weiterzumachen, und ich ziehe diese

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