1334 - Der Ghoul und die Witwe
erschießen?«
Auf diese Suggestivfrage fiel Jane nicht herein. »Nein«, erklärte sie, »ich werde dich nur dann erschießen, wenn du nicht tust, was ich dir sage. Damit ist es mir ernst, das kannst du mir glauben. Was hier abgelaufen ist und noch immer abläuft, das ist kein Spaß. Daran solltest du denken. Es geht hier nicht um deine ausgefallene Kunst, sondern um Leben und Tod. Kapiert?«
»Ja.«
»Wunderbar. Dann kann uns ja nichts aufhalten. Es ist ganz leicht. Ich gehe davon aus, dass deine Freundin Edna hier in der Nähe wohnt. Und zu ihr gehen wir jetzt. Alles klar?«
Er nickte. Dann fluchte er leise vor sich hin. Jane verstand die Worte nicht. Aber sie waren bestimmt kein Kompliment für sie.
»Umdrehen!«
»Ist schon okay. Soll ich auch die Arme heben?«
»Nicht nötig. Du wirst dich bestimmt brav verhalten und gar nicht mal darüber nachdenken, irgendwelche Dummheiten zu machen. Das könnte leicht ins Auge gehen.«
»Ich weiß.«
Jane hatte Glück. Der Totengräber machte ihr tatsächlich keine Probleme. Brav schritt er vor ihr her.
Jane blieb trotzdem sehr wachsam. Und sie waren die einzigen Personen, die durch die Stille des Friedhofs schritten. Andere Geräusche außer ihren Schritten waren nicht zu hören.
Die Detektivin wusste nicht, ob sie sich richtig verhalten hatte.
Das Verlassen des Friedhofs konnte auch falsch sein. Aber sie hatte nichts mehr gesehen, und von John Sinclair keine Spur gefunden.
Auf ihn warten wollte sie auch nicht. Das hätte ebenfalls ins Auge gehen können. Um sie herum lauerte zwar die Stille, aber sie hatte auch die Ghouls nicht vergessen, die sich hier herumtrieben und die Reste dem Totengräber überlassen hatten.
Beide befanden sich noch auf dem Friedhof, aber schon in der Nähe des Ausgangs, als Jane ein Geräusch hörte, das sie verwirrte, weil sie nicht sofort herausfand, worum es sich handelte.
Ein Schuss war es nicht.
Es klang gedämpft, unterdrückt. Als hätte jemand etwas verschluckt. Einen Knall und…
»Bleib stehen!«
Der Totengräber gehorchte ihr aufs Wort.
Jane lauschte. Sie wartete darauf, dass sich das Geräusch wiederholte. Da hatte sie Pech, denn sie vernahm es kein zweites Mal.
Dass es eine unnatürliche Ursache hatte, stand für sie fest. Es war jetzt nicht die Zeit, länger darüber nachzudenken. Jane wusste, dass sie der Lösung immer näher kam, und da wollte sie keinen Umweg gehen.
»Geh weiter!«
Der Totengräber gehorchte. All seine Bewegungen verrieten, dass er nicht daran dachte, sich so zu verhalten, dass Jane hätte schießen müssen. Er ging ganz normal voran, und schon tauchten die Umrisse des Tores vor ihnen in der Dunkelheit auf.
Jane schaute bereits darüber hinweg auf die andere Straße. Dort wohnte Lou Kersher, ihr Auftraggeber. Und sie sah, dass hinter den Fenstern seiner Wohnung Licht brannte.
Sehr schwach nur, aber immerhin.
Damit verbunden war bei ihr ein anderer Gedanke. Plötzlich konnte sie sich vorstellen, dass auch diese Edna in dem bewussten Haus lebte.
Sie fragte nicht, als sich der Totengräber wieder in Bewegung setzte. Sehr bald hatten sie den Friedhof verlassen und überquerten die Straße, wobei sie dann direkt auf das Haus zugingen…
***
Lou Kersher hatte das Gefühl, in einem falschen Film zu sein. Was er sah, das hatte mit dem normalen Leben nichts mehr zu tun. Er hätte auch nicht damit gerechnet, so etwas überhaupt jemals zu sehen. Das war unwahrscheinlich. Da konnte er nur den Kopf schütteln. Aber genau das schaffte er auch nicht.
Er stand da und glotzte auf die Gestalt, während er in seiner unmittelbaren Nähe die Witwe Edna Wilson heftig atmen hörte, als stünde sie unter einem besonderen Stress.
Die Gestalt füllte den Sessel aus. Er suchte nach einem Vergleich.
Eklig, widerlich, kein Mensch, nur eine schwammige und glibberige Masse, die einen Kopf besaß. Das war auch alles. Zwar erkannte er darin ein Gesicht, nur verliefen die Züge immer wieder. Obwohl diese Masse Schleim in einem Sessel saß, befand sie sich schon in Bewegung. Sie wabbelte, sie sonderte auch Schleim ab, der immer wieder aus dem Körper quoll und dann an ihm herabglitt, wobei er sich irgendwann wieder mit der anderen Masse vereinigte.
Und dann der Geruch!
Nein, es war Gestank, der ihm den Atem raubte. So konnte nur verfaultes Fleisch riechen. So rochen Tote, die seit Jahren dem Vorgang der Verwesung anheim fielen. Diesen Gestank bekam ein normaler Mensch in der Regel nie mit, aber er stand jetzt in
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