1352 - Beute für den Sensenmann
fühlte sich nicht mehr als Mensch. Sie war eine Person, die etwas auszubaden hatte. Jemand wollte sich an ihr für etwas rächen, dass sie nie getan hatte.
Geschwächt blieb sie weiterhin liegen. Dunkelheit umgab sie wie eine Klammer. Sie waren durch die nahen Gärten gegangen und hatten noch immer nicht ihr eigentliches Ziel erreicht.
Lilian fühlte sich nicht mehr dazu in der Lage, weiterzugehen. Sie erlebte nicht nur die körperliche Schwäche. Auch die seelische Leere kam hinzu. Es war ihr noch nicht möglich gewesen, den Tod ihres Freundes zu verkraften. Die Zeit im Lokal hat sie zumeist in einem dumpfen Brüten erlebt, da immer wieder die Erinnerungen an die schreckliche Tat hochspülten, die das Skelett begangen hatte.
Gesehen hatte sie es noch nicht. Sie glaubte auch nicht daran, dass es sich zurückgezogen hatte und seine Aufgabe vernachlässigte. Es war alles so anders geworden. Okay, ihr Leben hatte manchmal einem Tanz auf dem Drahtseil geglichen, aber das war irgendwie okay gewesen. Trotz vieler Risiken hatte sie es immer überschauen können.
Aber jetzt?
Real und zugleich so verdreht. Sie war mit Dingen in Berührung gekommen, an die sie früher nicht mal im Traum gedacht hätte. Jetzt aber hatten diese Mächte zugeschlagen.
Sie war fertig. Sie wollte einfach nur Ruhe haben und liegen bleiben. Nichts mehr tun und denken, alles an sich herankommen lassen und möglicherweise auch mit dem Leben abschließen.
Es steckte keine Energie mehr in ihr. Sie war ausgelaugt und einfach nur leer.
Obwohl ihr die Zeit so lang vorgekommen war, hatte sie nur Sekunden auf dem kalten Boden gelegen. Der Bärtige war die ganze Zeit über bei ihr geblieben. Er hatte nichts gesagt und nur neben ihr gestanden. Von seinem Schatten fühlte sie sich eingehüllt.
»Stehe auf!«
Sie zuckte zusammen, als sie die Stimme hörte. Aber sie war auch in einen Zustand hineingeraten, in dem ihr alles egal war. Sie wollte nicht mehr, sie konnte es auch nicht. Innerlich sackte sie zusammen.
Die Kraft war nicht mehr vorhanden.
Navarro schaute auf sie nieder. Er wiederholte seinen Befehl kein zweites Mal. Dafür handelte er und griff zu.
Es war ihm egal, was sie durchmachte. Er umfasste beide Handgelenke und zog sie einfach weiter.
Sie merkte den Ruck an den Schultern. Sie schrie leise auf und drehte sich unbewusst noch in die Rückenlage hinein. So wurde sie dann über den Boden geschleift, ohne sich wehren zu können.
Navarro ging unbeirrt seinem Ziel zu. Ihn kümmerte dass Jammern der Frau nicht.
Ihre Hacken rissen Furchen in den Rasen. Wenn sie die Augen aufriss, sah sie über sich den dunklen Nachthimmel mit seinen mächtigen Wolken, die ihr vorkamen wie gewaltige Betonplatten, die sich irgendwann mal lösten.
Das heftige Reißen in den Schultern blieb. Die Schmerzen vergingen erst dann, als Navarro sie plötzlich losließ, sodass sie wieder zurück auf den Boden schlug.
In den folgenden Sekunden wollte sie kaum glauben, dass sie jetzt lag. Noch immer glaubte Lilian, weiter über den feuchten Rasen gezogen zu werden, aber sie hatte sich nicht geirrt. Sie lag tatsächlich auf dem Boden.
Der Kapitän kümmerte sich nicht um sie. Er hatte seine eigenen Probleme. Er stand auch nicht in ihrer Nähe. Sie hörte ihn hin und wieder auftreten. Dann erreichte jedes Mal ein dumpfer Klang ihre Ohren. Es war alles so fremd geworden, und inzwischen kam ihr auch ein schrecklicher Gedanke. Lilian musste damit rechnen, dass dieser verfluchte Kapitän Vorbereitungen für ihren Tod traf.
Jedenfalls gab es einen Lichtblick in ihrer Lage. Sie wurde nicht mehr gequält. Niemand kümmerte sich um sie, aber der Bärtige blieb in ihrer Nähe. Noch immer lauschte sie seinen Schritten.
Lilian fühlte sich mehr an der Seele verletzt als am Körper.
Sie drehte sich auf die Seite.
Verbissen saugte sie die Luft ein. Dann winkelte sie die Arme an, um sich etwas in die Höhe zu stemmen. Denn nur so bekam sie einen besseren Überblick.
Den Ort, an dem man sie geschleppt hatte, kannte sie nicht. Okay, sie lag außerhalb von Cove auf einer Wiese, die fast so nass war wie ein Teich. Die üblichen Geräusche hörte sie ebenfalls. Egal, wo sie sich aufhielt, das Rauschen der Brandung gegen die Felsen war immer zu hören. Es blieb als Begleitmusik, und wer hier im Ort lebte, der hörte es schon nicht mehr, weil er sich daran gewöhnt hatte.
Einen Schatten sah sie auch!
Zuerst wusste sie nichts damit anzufangen. Er breitete sich nicht auf dem Boden aus,
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