1352 - Beute für den Sensenmann
Überlebenswillen. Zwar hatte sie keine Erfahrung, aber sie konnte sich gut vorstellen, dass dieser Mörder keine Zeugen hinterlassen würde.
Ich bin eine Zeugin!, schoss es ihr durch den Kopf!
Aber ich will leben, nicht sterben!
An Orry wollte sie nicht denken, als sie sich umdrehte und auf die nahe Tür zulief. Hinter sich hörte sich schreckliche Geräusche, über die Lilian nicht näher nachdenken wollte. Wie blind tastete sie sich voran. Sie erreichte die Tür, sie kämpfte sich nach draußen in die Kälte, die gegen ihr erhitztes Gesicht schlug.
Das Motorrad stand in der Nähe. Sie nahm es nicht. Es musste auch so klappen. Bis Cove war es nicht besonders weit. In diesem Ort konnte sie Schutz finden.
Und so rannte sie los!
Der Weg führte leicht bergab. Es war am Tag kein Problem, ihn zu laufen. Bei Dunkelheit schon, denn da häuften sich die Hindernisse.
Zum Glück gab es keine Bäume, keinen dichten Wald, aber der Boden war auch nicht ohne. An manchen Stellen schimmerte er wie tief gefroren. An anderen wiederum war er weich, sodass sie das Gefühl hatte, durch ein Moor zu laufen.
Der Kampf ging weiter. Die Angst war wie ein Motor, der Lilian Dexter antrieb. Sie schaute nicht einmal zurück. Sie wollte nichts sehen, auch nichts hören am besten, nur weg. Hinein in den Ort, wo sie hoffte Hilfe und ein Versteck zu finden.
Aber wer konnte ihr helfen? Wer war stark genug, sich gegen dieses Monster zu stellen?
Eine Antwort wusste sie nicht. Und das traf auch für das Versteck zu. Sie und Orry waren Fremde. Die Menschen würden sich hüten, sie in ihr Haus zu lassen. Sie und Orry waren den Bewohnern ohnehin suspekt. Alles Andere und Fremde beobachteten sie mit Misstrauen.
Trotzdem lief sie weiter. Immer noch leicht bergab. Immer wieder über den kalten Boden und auch durch eine entsprechend kalte Nacht. Schnee lag nicht, das war ihr Vorteil, und sie tat auch das nicht, was sie so oft in den Filmen sah, wenn eine Frau oder ein Mann vor irgendetwas wegliefen.
Sie fiel nicht hin!
Lilian lief manchmal wie eine Tänzerin, so leichtfüßig. Aber ihre Gedanken waren bei Orry. Wie mochte es ihm jetzt ergehen? Lebte er noch, oder war er schon tot?
An die letzte Möglichkeit wollte sie nicht denken, aber sie wäre logisch gewesen, und deshalb kam sie daran auch nicht vorbei. Es war der Kampf gegen die Zeit, gegen die Verfolgung, und sie stand ihn durch, denn ihre Umgebung änderte sich, und die Umrisse der ersten Häuser erschienen in ihrem Blickfeld.
Nicht alle Fenster der grauen Steinhäuser waren dunkel. Sie sah die Lichter, deren Schein sie lockte, aber Lilian hatte in diesen Momenten andere Sorgen.
Sie musste eine Bleibe finden. Es war ihr nicht möglich, draußen zu übernachten. Sie konnte sich nicht in irgendeinen Stall verkriechen und dort abwarten, bis etwas geschah. Es war einfach zu kalt.
Dann sah sie mehrere Lichter in einer Reihe vor sich an der rechten Seite.
Im ersten Moment verstand sie nicht, was sie erblickte. Im Kopf war sie noch zu sehr durcheinander. Das Gefühl der Panik wollte sie noch immer nicht loslassen.
Schließlich kam ihr die Erleuchtung. Sie war zugleich die Lösung für ihr Problem.
Rose!
Ja, bei ihr würde sie Schutz finden. Rose führte ein Gasthaus zusammen mit ihren Eltern. Noch am Abend hatten Lilian und Orry bei ihr gesessen und Heilbutt gegessen. Mit Rose verstand sie sich einigermaßen. Sie würde ihr bestimmt Schutz gewähren. Außerdem war die Wirtstochter nicht so verbohrt wie die meisten Bewohner von Cove.
Es war kein Laufen mehr, sondern ein Taumeln, das sie näher an die Tür heranbrachte. Da noch das Licht brannte, würde Rose die Gaststätte geöffnet haben.
Mit letzter Kraft taumelte Lilian auf die Eingangstür zu. Gerade jetzt, wo ein Teil der Spannung sie verlassen hatte, stolperte sie. Sie hatte Glück und fiel nicht zu Boden. Die Tür hielt sie auf.
Mühsam hielt sie sich fest. Und während Lilian keuchend nach Luft schnappte, rannen Tränen über ihre Wangen…
***
Rose Dunn, die Wirtstochter war froh, dass das Haus ihr und ihren Eltern gehört. Hätten sie Pacht zahlen müssen, wäre es kaum gelungen, geschäftlich zu überleben. So aber konnten sie sich durchschlagen, wenn sie die Ansprüche nicht zu hoch stellten.
Im Sommer und im Herbst ging es ja. Da gab es Tage, an denen der Laden richtig brummte. Da hockten dann die Touristen an den Tischen und erzählten sich, was sie alles erlebt hatten. Da floss auch mal das Bier in Strömen, aber im
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