1360 - Abschied der Vironauten
Gesang gekleidete Erzählung. Salaam Siin hatte nicht einmal bemerkt, wie schnell die Zeit vergangen war. Nun öffnete sich in der Zellentür eine halb kopfgroße Fläche, und ein metallener Tentakel reichte auf zwei Tabletts Wasser und etwas Nahrungsbrei. „Fütterungszeit!" brummte Graucum sarkastisch.
Salaam Siin stürzte zuerst das schale Wasser hinunter und nippte dann vorsichtig an der Schüssel, die den Brei enthielt. Zum Glück war die Masse geschmacksarm und erregte keine Übelkeit, wie es der Meistersinger fast erwartet hatte. Lediglich ein kratzendes Gefühl blieb im Hals zurück und breitete sich bis in den Membrankranz aus, womit er seinen Gesang hervorbrachte.
Sekunden später griff der Tentakel erneut in die Zelle. Graucum reichte sein leeres Tablett zurück, und Salaam Siin tat es ihm gleich. „Sonst fällt beim nächsten Mal unsere Ration aus", erklärte der ehemalige Panish Panisha von Mardakaan.
Und Graucum fuhr fort in seiner Erzählung: „An die Gründung einer eigenständigen Regierung war nicht mehr zu denken. Mit dem Ziel, den Singuva zu vertreiben, gründete ich die Untergrundorganisation Hagen Geen ..."
„Du hast die Hagen Geen gegründet?" fiel ihm Salaam Siin unhöflich in die Melodie. „Ja. Noch vor ein paar Monaten hätte dies niemand von mir erwartet. Die Hagen Geen wuchs beständig, und zwar schneller, als mir lieb war. Ich bildete einen Führungszirkel aus fähigen Sängern. Zu diesem Zirkel stieß auch Koden Free. Du wirst ihn inzwischen kennengelernt haben. Er hatte vor kurzem einen Unfall erlitten und dabei seine Greifbüschel eingebüßt zumindest behauptete er das. Es gab keinen Grund, ihm zu mißtrauen, dachte ich.
Eines Tages aber verriet er den gesamten Führungszirkel an den Singuva. Wir hielten eine geheime Sitzung ab, auf der unser Kreis vollzählig vertreten war, und so geriet mit einem Schlag der Kopf der Organisation in Gefangenschaft. Ich erfuhr erst später, weshalb Koden Free so handeln mußte ... Wir haben es mit einer grausamen Machenschaft des Singuva zu tun."
Salaam Siin ahnte, worum es sich handelte. „Du meinst seine Kunstglieder, nicht wahr? Koden Free hatte gar keinen Unfall!"
„Nein - Koden Free war einer der ersten Ophaler, der um des eigenen Vorteils willen mit dem Singuva paktierte. Doch dieses geschwänzte Ungetüm ließ ihm alle zwölf Fühlerbüschel amputieren und durch von ihm gesteuerte Implantate ersetzen. Koden Free hatte jetzt keine Wahl mehr. Er war vollkommen abhängig vom Wohlwollen seines Herren, und so verriet er uns alle. Seitdem hat er die neue Führungsspitze der Hagen Geen unter seine Kontrolle gebracht. Jetzt seid auch ihr hier, und der Singuva hat keinen ernsthaften Gegner mehr zu fürchten. Er kann öffentlich die Herrschaft über unseren Planeten beanspruchen und ausüben. Wer sollte ihm noch im Weg sein?"
„Wir jedenfalls nicht", gab Salaam Siin mutlos zurück. Aber es blieb ja Hoffnung: Schließlich hätte der Singuva sie alle töten können. Weshalb hatte er es nicht getan? „Er wül dasselbe wie die Söldlingswerber", erklärte Graucum. „Er braucht ophalische Chöre, um überall in Estartu die Interessen der Singuva zu wahren. Wir sind die besten Sänger, die er jemals bekommen wird - vielleicht steht uns die gleiche Verstümmelung bevor wie Koden Free."
Salaam Siin lief ein kalter Schauer über die Borkenhaut. „Wenn man uns braucht, haben wir auch Macht", sang er zuversichtlicher, als er tatsächlich war. „Dann müssen wir zuschlagen und uns befreien."
Er ahnte nicht, daß es bald soweit sein würde.
Inzwischen hatte er, ähnlich wie sein Mitgefangener Graucum, Schwierigkeiten mit der Stimme. Versuche, durch reine Lautstärke mit den Ophalern in den angrenzenden Zellen Kontakt aufzunehmen, zeigten wenig Erfolg. Besonders tiefe Frequenzen überwanden zwar die rostigen Eisenwände und die Isolierschichten dazwischen, erlaubten aber keine sinnvolle Kommunikation.
Am sechsten oder siebten Tag seiner Gefangenschaft drangen vom Korridor her trotzdem leise Geräusche an sein Ohr.
Graucum fuhr aus sachtem Schlummer auf. „Hörst du das?" wollte er wissen. „Natürlich. Aber ich weiß nicht, was es bedeutet."
Salaam Siin preßte seine Augenknospen an das Sichtfenster und schaute auf den leeren Gang hinaus.
Lange Zeit blieb der Geräuschpegel konstant, und am Ende war der Meistersinger zu dem Schluß gekommen, daß es sich um Kampfgeräusche handelte. Kam man sie etwa befreien? Unwahrscheinlich, dachte er,
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