1371 - Das Erbe der Toten
letzten Blick in die Runde. Ich wollte wissen, ob sich der geheimnisvolle Mike Curtiz hier aufhielt, aber ich sah keinen Menschen. Dafür einen Schaukasten an der Wand. In ihm hingen die Informationen über Messen und sonstige Veranstaltungen, die in der Kirche stattfanden. Ich las dort auch die Öffnungszeiten. Wenn ich nach ihnen ging, musste ich draußen bleiben, denn um diese Zeit war die Kirche geschlossen.
Sicherlich hatte dies auch mein Informant gewusst. Er würde eine Möglichkeit gefunden haben, sich den Schlüssel zu besorgen, und deshalb glaubte ich nicht daran, dass die Tür abgeschlossen war.
Ich machte den Versuch.
Sie war es nicht!
Ein knappes Lächeln huschte über meine Lippen. Noch ein tiefes Luft holen, dann drückte ich die Tür nach innen und betrat die alte Templer-Kirche…
***
Es ist für jeden schon etwas Besonderes, wenn er eine derartige Kirche betritt. Sie war auf keinen Fall mit den katholischen Gotteshäusern zu vergleichen, die im Inneren wahren Kunstwerken glichen. Hier gab es keinen Pomp, keinen Prunk, nur diesen nüchternen kahlen Innenraum, in dem das Licht und die Dunkelheit Akzente setzten, sodass Muster aus Schatten und Helligkeit entstanden, die dem Inneren trotzdem keine richtige Wärme gaben.
Ein Altar war ebenfalls vorhanden. Er erinnerte an die Altäre in christlichen Kirchen. Seine Kreuzform war angedeutet, doch auch er schaffte es nicht, die Trostlosigkeit zu überdecken. Hier konnte niemand Freude empfinden.
Möglicherweise auch, weil die Grabplatten störten, die sich auf dem Boden ausbreiteten. Sie datierten aus dem 13. Jahrhundert und waren in strenger Ordnung angelegt. Wer an ihnen vorbeischritt, der glaubte, vom Atem der Geschichte umweht zu werden und konnte sicherlich manchen Schauer auf seinem Rücken nicht vermeiden.
Von meinem Informanten war nichts zu sehen, was mich leicht enttäuschte. Ich hatte mit ihm gerechnet, auch weil die Eingangstür nicht verschlossen gewesen war, nun sah ich mich allein in der Kirche und stellte mich in deren Mittelpunkt. Zumindest an eine Stelle, von der aus ich einen guten Rundumblick besaß.
Säulen stützten das runde Dach ab. Sie waren durch gotische Bögen miteinander verbunden, und so wurde die Decke getragen. Jenseits der Säulen lagen die Innenwände, unterbrochen durch schmale, hohe Fenster, die das Licht des Tages durchließen und die Kirche bei Sonnenschein erhellten.
Momentan war sie nicht sehr hell, weil draußen ein ständiges Wechselspiel aus Licht und Schatten herrschte.
Die Namen der hier begrabenen Tempel-Ritter kannte ich nicht.
Da hätte mir sicherlich mein Freund Godwin de Salier helfen können. Er lebte mit seinen Templer-Brüdern in Südfrankreich, aber ich hatte ihm nicht mitgeteilt, dass ich der Kirche hier in London einen Besuch abstatten würde.
Es war kühl um mich herum. Es gab sicherlich viele Menschen, die gefröstelt hätten, aber mich wärmte die Lederjacke. Noch immer wunderte ich mich darüber, dass sich dieser Mike Curtiz nicht zeigte. Die Kirche war offen gewesen. Er musste sie vor mir betreten haben, und jetzt war er verschwunden.
Oder hatte er sich versteckt, um mich zunächst mal zu beobachten? Das konnte durchaus sein, weil er sich seiner Sache sicher sein wollte. Er hätte sich längst zeigen können, schließlich stand ich schon einige Minuten hier und versuchte so wenig Geräusche wie möglich zu machen. Selbst meine Atmung hatte ich reduziert. Denn jeder Laut kam mir irgendwie störend vor. Hier herrschte eine schon heilige Stille, in der sich der Geist der toten Templer versammelt hatte.
Helligkeit, Licht, Schatten, sie lösten sich ab und wanderten.
Draußen spielte der Wind mit den Wolken. Er trieb sie vor sich her, und manchmal verdeckten die mächtigen weißen Gebilde auch die Sonne, sodass es zu dieser Düsternis kam.
Je länger ich mich auf etwas bestimmtes konzentrierte – sei es nun eine Säule oder eine Grabplatte –, umso mehr überkam mich der Eindruck, nicht allein zu sein.
Ich entdeckte an den schattigen Stellen irgendwelche Bewegungen.
Waren sie echt? War es Einbildung?
Ich tastete mein Kreuz ab, das ich unter meinem Hemd versteckte.
Erwärmt hatte es sich nicht. Das beruhigte mich einigermaßen. So gab es keine Gefahr, die sich in unmittelbarer Nähe befand.
Aber ich hörte etwas. Die Stimme erreichte mich als Flüstern. Die sprechende Person stand an einer bestimmten Stelle, doch durch die Akustik schien sie von überall
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