1373 - Die vergessene Sage
Menschen zu finden war.
Jetzt klangen auch Stimmen zu uns hin. Sie wirkten gedämpft, beinahe flüsternd. Rechts von uns verschwand die löchrige Mauer.
Dahinter sahen wir die Lichter deutlicher, aber ich dachte noch immer an die Mauer, die mich an die Wand erinnerte, die ich auf dem Gemälde gesehen hatte. Sie bildete dort den Hintergrund und war von zahlreichen Lücken durchzogen.
Durch die Lücken hier drang der flackerige Lichtschein. Für mich war es ein kleiner Ort, der durch eine Mauer geschützt wurde. Vor uns malte sich jetzt so etwas wie ein Weg ab. Die Räder von Karren hatten tiefe Spuren hinterlassen.
Ich hielt Glenda mit einem schnellen Griff zurück, als ich vor uns die Bewegung sah. Jemand hatte sich aus dem Schutz der Mauer gelöst und ging in unsere Richtung.
Es war ein Mann, der mit schweren Schritten ging. Wir sahen ihn schwanken, und er murmelte etwas vor sich hin. Manchmal sang er auch ein paar Töne, um danach stehen zu bleiben, weil er sich wieder etwas Treibstoff geben musste.
Den trank er aus der Öffnung eines Schlauchs. Entweder schwappte Schnaps oder Wein in ihm.
»Den nehmen wir uns vor«, sagte Glenda.
»Ich mache das!«
»Warum? Traust du mir nichts zu?«
»Schon. Aber ich spreche und verstehe die Sprache besser. Denn wir müssen davon ausgehen, in Frankreich zu sein.«
»Das ist ein Argument.«
Ich schaute noch mal zu der Gestalt hin, um zu sehen, wie sie sich bewegte. Sie entfernte sich jetzt von uns. Das war kein Problem.
Weit wollte ich sie nicht kommen lassen.
»Ich halte dir den Rücken frei!«, zischte Glenda noch, bevor ich startete.
Für mich war der Rest ein Kinderspiel. Außerdem war der Typ so mit sich selbst beschäftigt, dass er mich nicht bemerkte. Ich stand plötzlich vor ihm, als er wieder seinen Stoff aus der Öffnung des Schlauchs gluckern ließ.
In seinen Augen bewegte sich das Weiße, als er mich sah. Er erschrak. Die Schlauchöffnung löste sich zu früh von seinem Mund, und ein Teil des dunklen Landweins klatschte zwischen uns zu Boden. Ein paar Spritzer bekam ich noch ab.
Der Mann fluchte und schaute mich starr an.
»Hi«, sagte ich.
Er schüttelte den Kopf. Er war leicht benebelt. Ich hoffte, dass er nicht zu viel getrunken hatte und mir auch einige Fragen beantworten konnte.
»He, mon ami, wo kommst du her?«, fragte er.
Also doch, Frankreich. Ich hatte es geahnt. »Nun ja, von dort hinten.«
»Und wo willst du hin?«
»Wo du hergekommen bist.«
Er kicherte. »Willst du zuschauen?«
»Mal sehen.«
»Der ist wirklich gut«, wurde mir nach einem satten Rülpser erklärt. »Sie haben ihn extra aus Italien kommen lassen. Aber ich habe keine Lust mehr, zuzuschauen. Ich brauche meinen Schluck und will auch weg, wenn sie kommen.«
»Wen meinst du?«
Die Frage hätte ich nicht stellen sollen. Plötzlich erwischte ihn ein nüchterner Augenblick. Seine Reaktion hätte auf einer Bühne bei einem Comedy-Part sicherlich lustig ausgesehen, ich sah es in diesem Fall nicht so.
Er schwankte vor mir, versuchte mich zu fixieren und fragte schließlich mit schwerer Zunge: »Du siehst so komisch aus, so anders. Du gehörst gar nicht zu uns.«
»Nein, zu ihm.«
Ich hatte die Antwort auf gut Glück gegeben und erlebte, dass ich wirklich Glück hatte, denn der Knabe lachte knirschend.
»Hatte mir schon gedacht, dass der Maler nicht allein gekommen ist. Willst du ihm helfen?«
»Ja.«
»Aber sei vorsichtig. Viele glauben daran, dass es wirklich stimmt. Sie ist eine Hexe. Sie ist gefährlich. Sie spricht immer vom Teufel, und sie ist verdammt hübsch.« Er verdrehte die Augen.
»Viele haben sich schon mit ihr eingelassen, ohne darüber nachzudenken, was sie da taten. Und das bei dem Bruder, der im Heiligen Land gekämpft hat.«
»Du meinst Renaud de Vichier.«
»Wen sonst? He«, er stieß mich an. »Du weißt wenig.«
»Ich komme nicht von hier.«
»Richtig.« Wie viele Betrunkene lachte er ohne ersichtlichen Grund, trank noch einen Schluck und ging auf mich zu. Er wollte weiter. So trat ich zur Seite und ließ ihn gehen. Vor sich hin brabbelnd tauchte er ein in die dunkle Nacht und verschwand.
Als ich mich umdrehte, stand Glenda schon bei mir. »Nun? Was hast du erfahren?«
»Ich denke, dass wir genau im richtigen Augenblick hier eingetroffen sind.«
»Klasse.« Ihre Augen leuchteten. »Werden wir auf eine Bekannte stoßen?«
»Auf die vergessene Sage, wenn du so willst. Und ich glaube nicht, dass es ihr Geist sein wird.«
»Ha, genau darauf
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