1373 - Die vergessene Sage
wenig gelegt hatte. »Sie oder du, es ist jetzt egal. Aber sie hat von einer vergessenen Sage gesprochen. Sie selbst hat sich so genannt. Die vergessene Sage. Daran muss sie zu knacken haben. Ich kann es auch nachvollziehen, Glenda. Wir haben sie gesehen, und das Bild hat uns die Wahrheit gezeigt. Sie war nicht tot. Wäre sie es gewesen, hätte der Maler ihren Augen einen anderen Ausdruck gegeben. Eben, weil er so naturalistisch gemalt hat. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er so etwas vergessen hat.«
»Das denke ich auch.«
»Spürst du sie denn noch?«
Auf der Treppe stehend, blickte sich Glenda Perkins um. »Nein, ich spüre sie nicht mehr. Weder geistig noch körperlich. Doch ich glaube nicht, dass sie sich ganz zurückgezogen hat. Das interessiert mich im Moment nicht. Ich frage mich, wo wir hier sind. Kannst du darauf eine Antwort geben?«
»Keine konkrete, denke ich. Wenn ich es richtig sehe, befinden wir uns in ihrer Welt oder ihrer Zeit. Ob du es wahrhaben willst oder nicht, Glenda, du hast wohl eine Zeitreise unternommen, und ich bin dabei an deiner Seite geblieben. Du hast es tatsächlich geschafft, mich mitzunehmen. Auch das ist ein Novum. Zum ersten Mal passiert. Du hast tatsächlich die Kraft dazu gehabt.«
»Ich?«
»Wer sonst?«
Glenda hatte bereits nachgedacht. Deshalb konnte sie auch sofort eine Antwort geben.
»Ich glaube nicht, dass es nur an mir gelegen hat. Vielleicht ist es auch dein Kreuz gewesen, das ich mit auf die Reise nahm. Im Nachhinein kommt es mir wie ein Schutz vor. Ich bin sogar sicher, dass es mich vor Schlimmerem bewahrt hat. Es hat gewisse Kräfte abgelenkt und von mir ferngehalten.«
»Bis auf Celine.«
»Sie war in mir. Aber sie hat mich nicht zerstören können. Ihr Geist hatte mich übernommen, und jetzt ist er wieder ausgetreten. Zu meinem und deinem Glück, denke ich, denn so können wir uns aus eigenem Willen bewegen.«
»Fragt sich nur, wohin.«
Glenda gab zunächst keine Antwort. Ich sah ihr jedoch an, dass sie überlegte. Sie hob einige Male die Schultern und murmelte dabei etwas von der Vergangenheit, dem auch ich zustimmte.
Nicht nur die Gegenwart hat ein Gesicht, die Vergangenheit hatte es ebenfalls. Wobei sich das Gesicht nicht nur auf unsere Umgebung beschränkte, denn sie gefiel mir beim besten Willen nicht. Es lag auf der Hand, dass wir diese Düsternis verlassen mussten, um mehr sehen zu können.
Ich sprach Glenda darauf an, was sie seit ihrer Ankunft erlebt hatte, und sie konnte nur mit den Schultern zucken.
»Es war der Traum, John. Ich habe dir von dieser Treppe berichtet, die ich gegangen bin. Und plötzlich wurde dieser Traum Wirklichkeit. Ich hätte es selbst nicht für möglich gehalten, aber es ist nun mal so. Der Traum wurde Realität, und alles nur, weil ich das Bild mitgenommen habe. Das ist das ganze Unglück.«
Dagegen gab es nichts zu sagen. Noch standen wir auf der Treppe. Wir wussten nicht, was oberhalb von ihr lag und hatten auch noch nicht den Bereich unter ihr erforscht.
Ich – wollte mehr wissen und fragte Glenda, ob sie mich in die Tiefe begleiten wollte.
»Nein, John, das möchte ich nicht. Ich werde auf dich warten. Entweder hier oder am Anfang.«
»Gut. Ich bin dann gleich zurück.«
Wir handelten so, als befänden wir uns in der normalen Welt. Es gab auch keine großen Unterschiede zwischen diesen beiden Zeitebenen. Zumindest keine sichtbaren.
Glenda ließ ich zurück. Gern tat ich es nicht, aber ich wollte auch nicht, dass ich etwas Wichtiges übersah. Im Licht meiner Lampe kam ich schnell voran und nahm manchmal sogar zwei Stufen auf einmal.
Schließlich hatte ich das Ende der Treppe erreicht und konnte in zwei Richtungen leuchten. Nach rechts und nach links. Dort sah ich die kurzen Gänge, die leer waren. Vor mir ragte eine Mauer auf, an der etwas befestigt war.
Beim ersten Hinleuchten huschte der Strahl darüber hinweg. Ich leuchtete nach und bekam es wieder zu Gesicht.
In das Mauerwerk waren zwei Ringe eingelassen worden. An ihnen hingen Ketten, die bis zum Boden reichten. An den Enden der Ketten waren Eisenringe befestigt, die man um die Gelenke eines Menschen legen konnte. Das hier war so etwas wie ein Folterverlies oder auch ein großes Grab, in dem Menschen starben.
Ich konnte mir vorstellen, dass dieses Grab schon zahlreiche Tote gesehen hatte, obwohl keine Spuren zu sehen waren. Möglicherweise war es auch für eine besondere Person geschaffen worden, die hier ihre letzte Ruhestätte finden
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