1373 - Die vergessene Sage
Bewegungen zu bedeuten hatten. Es sah aus wie ein Treten mit den Füßen, mit dem sich die Gestalt immer mehr entfernen wollte. Die Bewegungen breiteten sich aus bis zum Kopf. Innerhalb dieser Form erschien das Gesicht der Frau, die ich auf dem Gemälde gesehen hatte. Sehr deutlich sogar. Für einen Moment glaubte ich daran, dass sich aus dem feinstofflichen Gemenge wieder ein normaler Körper zurückbilden würde, doch das trat nicht ein.
Der Schatten wirbelte ein paar Mal heftig um die eigene Achse, als wollte er sich produzieren und mir noch mal zeigen, wie stark er tatsächlich war.
Dann schwebte er davon. Sehr schnell, absolut lautlos. Wie ein Nebelstreifen über eine Wiese. Nur gab es hier nichts Grünes. Er huschte die Stufen hoch und verschwand, als wäre er in einen tiefen Tunnel eingetaucht.
Für mich war er nicht mehr interessant. Ich sah nur Glenda, die noch immer zwei Stufen über mir stand und Mühe hatte, sich auf den Beinen zu halten. Sie schwankte mal nach vorn, dann wieder zurück, und es war besser, dass ich eingriff und sie festhielt.
Es tat gut, Glendas Körper zu spüren. Und auch ihr Zittern. So wusste ich zumindest, dass sie lebte und dass in ihr auch Gefühle steckten.
Ich spürte ihre Lippen dicht über mein Ohr hinweggleiten. Dann fing sie an zu reden. Sie sprach nicht laut. Ihre Worte waren mehr ein Flüstern. Ich hörte zu, wie froh sie letztendlich war, dass wir beide diese Reise überstanden hatten.
»Und du hast mich nicht mitgenommen«, sagte ich.
Meine Worte sorgten bei ihr für eine Versteifung des Körpers.
»Wieso? Ich weiß es nicht. Es war plötzlich alles anders. Da bewegte sich das Zimmer. Ich sah die Wände, wie sie sich nach vorn neigten und dabei auf mich zurollten.«
»Du hast nach meinem Kreuz gerufen.«
»Wirklich?«
»Ja.«
»Hast du es mir gegeben?«
»Natürlich.«
Sie presste sich enger an mich. Ich musste Acht geben, das Gleichgewicht zu behalten.
»Daran kann ich mich nicht erinnern, John, aber ich kann mir vorstellen, dass es das Kreuz gewesen ist, das dafür gesorgt hat, dass du mit auf die Reise kommen konntest.«
»So sehe ich die Dinge auch. Ohne es wärst du wohl allein weggebeamt worden, und ich hätte dich jetzt verzweifelt suchen können.«
Als Glenda lachte, klang dies nicht eben erfreut. »Jetzt sind wir allein, und ich frage mich, in welch einer Welt wir gelandet sind.«
Das fragte ich mich auch, aber etwas anderes zählte viel mehr.
Und dieses Thema hielt ich nicht zurück.
»Mit dir ist eine Veränderung eingetreten, Glenda. Ich habe etwas erlebt, das mich schockte, und dafür hätte ich gern eine Erklärung, wenn es möglich ist.«
»Ich weiß, John. Ich habe es gespürt, und ich kann dir sagen, dass ich nicht mehr allein gewesen bin. Du kannst jetzt lachen und den Kopf schütteln, aber ich habe mich nicht geirrt. Etwas Fremdes ist in mich eingedrungen.«
»Der Schatten.«
»Ihr Schatten.« Glenda löste sich von mir. Das Licht reichte aus.
Meine Lampe brauchte ich nicht. Als Glenda den Kopf schüttelte, nahm ich dies an der Wand auch als Schattenspiel wahr.
»Man muss den Schatten wohl als einen Geist ansehen«, erklärte sie mit leiser Stimme und schüttelte sich dabei, weil die Erinnerung daran nicht eben positiv war. »Es ist ein Geist gewesen, den ich als einen besonderen ansehe.«
Ich wollte mehr wissen und fragte: »Inwiefern?«
»Sie lebt, glaube ich«, flüsterte Glenda.
»Wer?«
»Celine de Vichier. Ich habe sie in mir gespürt, und ich weiß jetzt, dass sie nicht zu den frommen Frauen gehört hat. Sie ist einen anderen Weg gegangen, und das als Schwester eines Templer-Großmeisters. Es muss schlimm für ihn gewesen sein.«
Langsam formte sich auch bei mir ein Bild. Wie Glenda das erklärt hatte, gab es eigentlich nur einen Weg für die Frau, den sie hätte gehen können.
»Hat sie sich auf die Gegenseite geschlagen?«
Glenda gab mir die Antwort nicht sofort. Glenda schaute mich an und nickte bedächtig.
»Genau«, gab sie schließlich zu. »Von einer Gegenseite kann man sprechen. Ich meine, dass sie zu einer Hexe wurde. Oder was immer man darunter auch versteht. Jedenfalls stand sie nicht mehr auf der Seite ihres Bruders. Das weiß ich.«
Ich wartete mit einer Bemerkung. Nach einer Weile fragte ich:
»Kannst du dich daran erinnern, dass du dich mit einer fremden Stimme mit mir unterhalten hast?«
»Nein, kann ich nicht«, antwortete sie hastig.
»Es ist aber so.« Ich wartete, bis sich ihre Unruhe ein
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