1373 - Die vergessene Sage
nichts.
Sie schaute nur!
Aber auch das gefiel mir nicht. So wie Celine blickte wohl niemand sein eigenes Porträt an.
Oder doch?
Die Redaktion kam. Jeder erlebte sie, und sie fand ihren Ausbruch in einem irren Schrei der Wut…
***
Ich war nicht überrascht, und Glenda sicherlich auch nicht. Wir hatten uns so etwas Ähnliches denken können, denn die beiden wichtigen Details mussten sie einfach stören.
Celine schrie noch immer. Sie war wie besessen. Sie schüttelte den Kopf. Sie hielt die Arme halb erhoben und die Hände zu Fäusten geballt. Auch der Mund war weit aufgerissen, der Kopf nach hinten gelegt, und sie trampelte mit beiden Beinen.
Es hatte sich wohl jeder stark erschreckt, der den Schrei vernommen hatte. Da machten auch wir keine Ausnahme, aber uns hatte die Reaktion nicht so schlimm getroffen wie die Menschen in der Nähe. Da bewegte sich keiner mehr von seinem Platz fort. Sie standen da und duckten sich. Eine Frau hatte die Hände vor ihr Gesicht geschlagen, andere drehten den Kopf zur Seite und wollten gar nichts mehr sehen.
Die Wut war groß. Und deshalb dauerte es seine Zeit, bis der Schrei langsam abebbte. Dafür hörten wir, wie Celine de Vichier die Luft einsaugte, als würde sie Wasser schlürfen.
Dass ihr Gesicht knallrot angelaufen war, erkannte niemand bei dieser Beleuchtung. Flammenschein und Schatten tanzten auf ihrer Haut. Sie wollte nicht mehr hinschauen und drehte langsam den Kopf zur Seite, um ein anderes Ziel in ihren Blick zu bekommen.
Es war der Maler!
Auch ihn hatte der Schrei entsetzt. Er war noch kleiner geworden und zur Seite ausgewichen. Zum ersten Mal sahen wir auch sein Gesicht. Es wirkte wie aus Holz geschnitzt. Über es hinweg rann das Spiel aus Licht und Schatten.
»Das ist dein Werk, nicht?«
Furletto nickte ängstlich.
Er sah nicht, wie Celine ausholte. Keiner bekam es so richtig mit.
Auch Glenda und ich nicht.
Aus der Drehung schlug sie zu.
Es war ein hammerharter Schlag, der das Gesicht des Malers traf.
Ob er mit der Faust oder der flachen Hand geführt worden war, blieb uns verborgen. Dafür erlebten wir die Reaktion mit, denn der Künstler fiel zu Boden, als wären ihm die Beine weggerissen worden.
Auf dem Rücken blieb er liegen. Etwas Dunkles sickerte dabei aus seiner Nase. Das Blut rann bis in seinen Mund hinein, wo er es schlucken musste.
Celine de Vichier fuhr auf der Stelle herum. Wütend schüttelte sie dabei den Kopf und streckte ihre Arme aus.
»Habt ihr das Bild gesehen?«, schrie sie die Menschen an, ohne dass sie eine Antwort erhielt. »Habt ihr es wirklich genau gesehen? Schaut es euch an. Seht, was da passiert ist, verflucht. In meinem Körper stecken zwei Pfeile. Einer in der Brust, der andere in der Schulter. Wie kommt dieser Hundsfott dazu, mich so zu malen? Was ist ihm da durch den verfluchten Kopf gegangen?«
Es war klar, dass sie die Fragen stellen musste. Nur war niemand da, der ihr eine Antwort hätte geben können. Auch Glenda und ich waren unwissend.
Und doch gab es eine Person, an die sich die Frau, die sich selbst als Hexe ansah und dem Teufel zugehörig, wenden konnte. Furletto lag noch immer auf dem Boden. Er hielt eine Hand gegen sein Gesicht gepresst und wagte nicht, sich zu erheben.
Celine schaute auf ihn nieder.
Dann trat sie ihm in die Seite.
Furletto stöhnte auf.
»Du wirst reden!«, fauchte sie ihn an. »Du wirst verdammt noch mal reden und alles sagen, was du weißt. Welcher Dämon hat dich geritten, dass du mich so gemalt hast?« Wieder verpasste sie ihm einen Tritt, der ihn auf die Seite schleuderte.
Neben mir zuckte Glenda zusammen.
»Das kann man ja nicht mehr mit ansehen. Sollen wir nicht eingreifen?«
»Noch nicht. Er wird reden, davon bin ich überzeugt. Und dann erfahren auch wir mehr.«
»Das ist eine Sadistin.«
Durch mein Schweigen gab ich Glenda Recht. Auch mir fiel es schwer, nur Zuschauer zu sein. Doch manchmal gibt es Dinge im Leben, die man über sich ergehen lassen muss, um später umso treffender zuschlagen zu können. Ich hoffte, dass es auch hier der Fall sein würde.
Sie trat nicht mehr, sondern war dicht an ihn herangegangen und fauchte ihm einen Befehl ins Ohr.
»Steh auf!«
Das tat Furletto nicht. Er hatte die Frau zwar gehört, nur war er durch die Tritte und die damit verbundenen Schmerzen nicht in der Lage, der Aufforderung zu folgen.
Was er sagte, verstanden Glenda und ich nicht, aber wir sahen, dass er einen Arm anhob, als wollte er durch einen kräftigen Ruck in die
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