1375 - Wächterin der Toten
etwas gebrochen oder nur verstaucht hatte, war auf einen Blick nicht festzustellen, doch den beiden jungen Leuten war klar, dass sie etwas für ihn tun mussten.
Sie liefen zu ihm. Clara bückte sich. Sie hütete sich, ihn am Körper anzufassen und drehte seinen Kopf leicht herum, weil sie in das Gesicht schauen wollte.
Sie sah – und sie zuckte mit einer heftigen Bewegung zurück.
Schnell presste sie eine Hand auf die Lippen, um den Schrei zu ersticken.
Johnny schob sie zur Seite. Er hatte sich noch an der Treppe aufgehalten. Jetzt bekam er freie Sicht und sah, was seine Freundin so erschreckt hatte.
Das Gesicht des Pfarrers war nichts anderes als eine feuchte, blutige Masse. Jemand hatte ihn schrecklich erwischt und Teile der Haut eingerissen. Es war ein Wunder, dass er nicht bewusstlos geworden war.
Clara und Johnny wussten, dass sie nichts für den Pfarrer tun konnten. Okay, sie hätten ihn nach draußen schleppen können.
Vielleicht auch einen Arzt herbeirufen, das alles hätte jedoch Zeit gekostet, und die hatten sie nicht. Sie wussten, dass sich eine Etage höher ein Drama abspielte, dem auch der Geistliche nicht hatte entgehen können.
»Wir schaffen ihn nach draußen, Johnny. Das müssen wir für ihn tun.«
»Nicht jetzt, später.«
»Wieso?«
Johnny, der gebückt gestanden hatte, richtete sich auf und drehte sich der Treppe zu. Mit sehr leiser Stimme sagte er: »Wir müssen dort hoch. Oder ich muss es!«
Clara Lintock schwieg. Es war ihr nicht anzusehen, ob sie nichts sagen wollte oder konnte. Schließlich hatte sie sich gefangen und flüsterte: »Willst du so aussehen wie er?«
»Nein!«
»Dann bleib hier!«
Johnny schüttelte den Kopf. Clara kannte ihn noch nicht lange, aber sie sah die Entschlossenheit in seinem Gesicht, und sie wusste, dass sie ihn nicht von seinem Vorsatz abbringen konnte. Er musste das einfach tun, um vor sich selbst bestehen zu können, und er fragte auch nicht mehr lange, sondern drehte sich um und schritt langsam die Treppe zur ersten Etage hoch…
***
Es war eine Situation für Johnny Conolly, die er so nicht kannte.
Sein Vater und auch dessen Freund John Sinclair erlebten so etwas öfter, doch er musste sich als ein Neuling ansehen. Oder wie ein Nichtschwimmer, der ins tiefe Becken springt, um dort zu lernen, über Wasser zu bleiben.
Die Treppe kam ihm so lang und zugleich auch kurz vor. Jede Stufe war mit einer Sekunde verbunden. Je näher er kam, desto mehr konnte er erkennen, und ihm fiel als Erstes auf, dass die Tür zum Zimmer der verstorbenen Großmutter nicht geschlossen war.
Es überraschte ihn nicht. Wichtiger war, was sich hinter der Schwelle abspielte.
Noch war es zu finster, aber der verdammte Geruch verstärkte sich. Johnny hätte sich am liebsten ein Taschentuch vor den Mund gehalten. Das ließ er jedoch bleiben, denn er benötigte beide Hände, um sich verteidigen zu können.
Und so ging er weiter. Versuchte dabei, seine Gefühle zu unterdrücken und cool zu bleiben. Er dachte an all die schlimmen Momente, in denen er bis zum Hals in einer tödlichen Gefahr gesteckt hatte und aus der er wieder herausgekommen war. So versuchte er sich Mut zu machen, auch wenn er waffenlos war.
Allerdings besaß er ein gewisses Vertrauen in die jenseitigen Kräfte und Mächte. Dabei dachte er dann an die Großmutter oder deren Geistererscheinung.
Für ihn war es die Großmutter gewesen, auch wenn Clara von einem Schutzengel gesprochen hatte.
Er nahm noch die letzte Stufe. Dann hatte er sein Ziel fast erreicht.
Was hinter ihm und eine Etage tiefer passierte, interessierte ihn nicht. Er schaute nach vorn und sah die offene Tür, die ihm einen Blick in die Wohnung der Jessica Lintock gewährte.
Nicht an den Geruch denken. Nur an sie. Schauen, ob sie da waren. Er dachte auch an die verbrannte Figur und ging davon aus, dass sich in der Wohnung besondere Kräfte gesammelt hatten.
Johnny schob sich auf die Schwelle zu. Bereit, jeden Moment den Rückzug anzutreten. In ihm wuchs die Spannung.
Dann war er da!
Der erste Blick. Er sah die Fenster als hellere Ausschnitte. Das Licht verteilte sich im Zimmer. Die zahlreichen Figuren standen dort wie stumme Wächter. Manche Gesichter waren klarer zu erkennen als andere. Im Licht wirkten sie manchmal wie bleiche Totenmasken.
Was für die Sammlerin eine Freude gewesen war, das sah er als Gegenteil an.
Sie lebten nicht. Sie waren und blieben einfach nur Figuren. Ob ein gewisser Geist in ihnen steckte, war auch nicht
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