138 - Nostradamus - Gericht im Jenseits
gescheitelt. Es ragte über ihre
Schulterblätter.
»Ich heiße Sie willkommen, de Garche«,
sagte sie mit charmantem Lächeln. Ihre Stimme klang dunkel und sympathisch.
»Ich hoffe, Sie haben sich überlegt, was Sie mit Ihrem Schritt tun. Nicht jeder
verkraftet es, seine Zukunft zu erfahren ...«
Bei den letzten Worten veränderte sich
ihre Stimme. Sie klang nun ernst, beinahe nachdenklich.
»Bevor es geschäftlich wird - erst mal zum
Privaten«, bemerkte der Fabrikant und löste das Papier von den Blumen. Er
überreichte den großen Strauß, und Madame war entzückt.
»Wunderschön! Gelbe Teerosen. Und diese
satte, dunkle Farbe ... Sie machen mir damit eine wirkliche Freude, de Garche.«
Sie stellte die Rosen mit zarter Hand
selbst in eine Vase.
Schon so oft war er in diesem Haus
gewesen, und doch kam diese Frau ihm jedesmal anders vor.
Sie redete zunächst über einige
belanglose, alltägliche Dinge. Politik und Wirtschaft spielten dabei eine
Rolle. Ein Thema, das de Garche sehr interessierte.
»Wir werden darauf noch eingehender zu
sprechen kommen. Nachher - bei der Sitzung«, ließ Madame ihn wissen.
»Wirtschaftliche Fragen stehen im Mittelpunkt Ihres Lebens, aber da gibt es ja
sicher einiges mehr, was Sie wissen möchten.«
De Garche nickte. »Ich möchte wissen, was
in den nächsten Jahren auf mich zukommt. Finanziell - und vor allem
gesundheitlich. Wie wird es weitergehen?«
»Dann kommen Sie bitte mit. Ich werde
offen zu Ihnen reden und kein Blatt vor den Mund nehmen.«
»Genau das erwarte ich von Ihnen.«
Die Seherin ging ihrem Kunden voraus. Sie
bewegte sich mit kleinen, eleganten Schritten. Der seidige Umhang raschelte.
Vom Salon aus führte eine Tür in einen
Nebenraum. Dahinter war ein schwerer Vorhang. Madame drückte ihn zur Seite.
Das folgende Zimmer war fensterlos und
düster.
Charles de Garche verhielt im Schritt. Im
ersten Moment sah er nichts, bis seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt
hatten.
Der ganze Raum war mit dunklem Samt
ausgeschlagen. In der Mitte stand auf einem erhöhten Podest - ebenfalls mit
Samt verkleidet - ein hochlehniger, schmaler Stuhl. Links und rechts neben der
hohen Rückenlehne war je ein Totenschädel aufgespießt.
Auch die Enden der Armlehnen waren mit
Totenschädeln auf makabre Weise drapiert.
Vor diesem thronähnlichen Sitz stand ein
eiserner Dreifuß, daneben eine niedrige Säule mit einer Schale.
Estrelle Kuruque trat zur Seite. »Keine
Scheu! Was Sie sehen, hat nichts mit Spinnerei und Scharlatanerie zu tun. Es
ist eine Notwendigkeit, die Sie bald eingehen werden.«
Beim Nähertreten erkannte de Garche, daß
es in diesem seltsamen Raum ohne Fenster und ohne Bilder noch zwei weitere
Einrichtungsgegenstände gab. Sie standen dem Thron genau gegenüber an der Wand.
Es handelte sich um eine schmale Couch und einen Stuhl.
Madame ging um das Podest und entzündete
wie durch Zauberei die Schale auf der niedrigen Säule. Ein gespenstiges,
ständig in Bewegung befindliches Licht flammte auf. Es reichte allerdings nicht
dazu aus, die Umgebung aufzuhellen.
Die seltsam alterslose Frau, von der
niemand so recht zu wissen schien, wie alt sie eigentlich war - manche
schätzten sie auf Mitte Zwanzig, andere auf Mitte Dreißig - deutete auf den
eisernen Dreifuß vor dem Thronsessel.
»Auf diesem Stuhl, Monsieur, hat vor über
vierhundert Jahren mein berühmter Vorfahr’ gesessen. Es ist jener eherne Stuhl,
von dem er in seinen Versen spricht. Vielleicht haben Sie schon davon gehört.
Nostradamus sagt:
Ich sitze in der Nacht auf ehernem Stuhle
Und gebe mich geheimen Studien hin:
Da - eine Flamme züngelt hervor aus der
einsamen Stille.
Sie zwingt mich auf Wunder zu hoffen, die
sonst der Glaube vergeblich ersehnt.
Den Zweig in der Hand, fühle ich mich
versetzt in des Branchus Reich, Die Welle benetzt den Kleidersaum und den Fuß;
Furcht und Stimmen lassen meine Hände zittern, Göttlicher Glanz leuchtet auf,
das Göttliche läßt sich nahe bei mir nieder.«
»Können Sie sich vorstellen, was
Nostradamus mit diesen Worten gemeint haben mag?«
»Ich höre zwar die Worte, aber mir fehlt -
das muß ich ehrlich eingestehen - der Sinn.«
Madame lächelte freundlich. Die Licht- und
Schattenreflexe auf ihrem Gesicht ließen es noch lebhafter erscheinen, als es von
Natur aus war. Auf ihrem Antlitz konnte man lesen wie in einem aufgeschlagenen
Buch.
»In der Stille der Nacht saß Nostradamus,
mein Vorfahr’, auf diesem ehernen Dreifuß. In der einen Hand
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