1393 - Werwolf-Nacht
ins Grünliche zu sehen.
»Ich nähere mich«, flüsterte sie. »Ich nähere mich dem absoluten Zustand. Ich habe die Brosche zu oft gehalten. Ich habe die Botschaft zu oft empfangen…«
Sie konnte ihren Zustand selbst gut analysieren, und sie fürchtete sich vor der Endgültigkeit, wie sie es von ihrer Mutter her kannte. In bestimmten Nächten verlor sie ihr Menschensein und brauchte Blut.
Wenn sie es nicht bekam, schlug sie alles kurz und klein, was sich in ihrer Nähe befand.
Momentan war sie ruhig. Das kam Kiri zugute, die sich weiterhin mit sich selbst beschäftigte. Sie strich nun auch unter der Kutte über ihre spitzen Brüste hinweg und fühlte dort ebenfalls das welche Fell.
Es zog sich auch weiter über den Körper, und als sie über ihre nackten Beine strich, fühlte sie diesen natürlichen Samt ebenfalls.
Das Fell wärmte, auch wenn es noch nicht so dicht war. Es wärmte so gut, dass sie nicht fror und ihr Körper auch keine Gänsehaut bekommen hatte.
Kiri Bayonne öffnete das Handschuhfach. Dabei griff sie an ihrer Mutter vorbei, die sehr still geworden war. Mit einem zielsicheren Griff erfasste Sie den Gegenstand, der dort lag.
Es war die Brosche aus Metall, das eigentlich kühl hätte sein müssen, es aber nicht war, denn sofort merkte sie, dass von diesem Material eine gewisse Wärme ausging.
Sie setzte sich wieder normal hin und hielt die Hand geschlossen.
Sie genoss die Wärme des Metalls, und nach einer Weile öffnete sie die Faust.
Jetzt lag die Brosche vor ihr. Der Anblick erinnerte sie wieder an den alten Mann, der ihnen die Brosche geschenkt hatte. Sie wunderte sich, dass sie noch dachte wie ein normaler Mensch, und sie fragte sich, von wem der Alte dieses Schmuckstück wohl bekommen haben mochte.
Verraten hatte er nichts, und weder sie noch ihre Mutter hatten diesen Menschen je wiedergesehen. Außerdem waren sie nicht mehr zurück in die Gegend gegangen.
Die Brosche war eine Botschafterin, das erkannte sie jetzt sehr genau. Der eingravierte Werwolfskopf auf ihrer Oberfläche war einfach nicht zu übersehen, denn er leuchtete jetzt in einem kalten Grün. Kiri glaubte, dass der breite Mund – es war weniger eine Schnauze – zu einem wissenden Grinsen verzogen war. Wer diese Brosche besaß, geriet in den Bann einer anderen Person oder Mutation, die Morgana Layton hieß.
Den Namen hatte Kiri Bayonne behalten. Nur konnte sie sich unter dieser Gestalt nichts vorstellen. Dabei ging sie nicht unbedingt vom Aussehen aus, sondern mehr davon, wer diese Morgana Layton wirklich war und wo sie sich wohl aufhielt.
In dieser Welt oder in einer anderen, falls es sie überhaupt gab?
Kiri hatte kurz nach dem Erwerb der Brosche alte Bücher gewälzt.
Sie hatte einige Wolfssagen gefunden, auch in den Märchen des osteuropäischen Raums, nur der Name Morgana Layton war ihr fremd geblieben. Dabei musste sie sehr mächtig sein, sonst hätte die Brosche nicht diese extreme Wirkung haben können.
Auch jetzt ging wieder ein Strom von ihr aus und verteilte sich im Körper der Kiri Bayonne.
Sie schloss die Augen und verzog die Lippen zu einem breiten Grinsen. Es stand für sie fest, dass sie ihrem Schicksal nicht entgehen konnte. Sie gehörte einfach dazu. Wäre es anders gewesen, hätte Alice sie schon längst angefallen.
Das leise Knurren riss sie wieder aus ihren Gedanken, und sie öffnete auch die Augen.
Alice wurde wieder unruhig. Mit den Pranken fuhr sie durch das Fell. Der Kopf mit der Schnauze bewegte sich. Mal stand das Maul offen, mal war es geschlossen. Ab und zu fuhr auch eine längere Zunge nach draußen, und die gelben Augen leuchteten noch kälter.
»Bitte, Mutter, reiß dich noch zusammen. Wir können woanders hinfahren. Dort wirst du dein Opfer bekommen, aber…«
Das plötzliche Heulen hörte sich schrecklich an. Es tobte durch den Van, es war schlimm, und die vorderen Pranken stießen in die Höhe. Sie trafen das Glas der Innenbeleuchtung, die Birne ebenfalls, und ließen beides zersplittern.
Kiri wollte ihre Mutter zurückhalten. Dieser Versuch ging daneben. Sie schaffte es nicht mal, sie anzufassen, denn die Wölfin riss die Tür auf und stützte sich wie ein Hund ins Freie. Sie landete auf ihren Vorder- und Hinterpranken, schnellte hoch und rannte weg.
Kiri schrie ihr nach.
Alice hörte nicht mehr. Der Blutdurst und die verdammte Gier waren einfach stärker. Sie würde loslaufen und sich auf die Menschen stürzen, um sie zu zerreißen.
Die Nacht verschluckte den Körper,
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