1393 - Werwolf-Nacht
dass sie sich verteilt hatten und die Gegend rechts und links des Weges absuchten. Zu leicht konnten sie dabei auf den abgestellten Van treffen. Ihn jetzt noch wegzufahren, konnte sie vergessen. Sie musste weiter. Dringender als je zuvor, das spürte sie genau.
Die nächste Überraschung ließ nicht lange auf sich warten, denn vor ihr malten sich sehr bald die Umrisse zweier Autos ab.
Den Pennern gehörten sie bestimmt nicht. Also mussten die beiden Männer damit gekommen sein.
Der Fall wurde für Kiri immer mysteriöser. Die beiden mussten einen Grund gehabt haben, in die Einsamkeit zu fahren. Möglicherweise war man ihr und der Mutter bereits auf die Spur gekommen.
Sie stöhnte leise auf. In ihrem Innern kochte es. Wilde Gedanken überfluteten sie. Kiri fühlte sich immer mehr zur Bestie hingezogen als zu den Menschen. Über ihre Haut rann ein Kribbeln, das sie nicht als angenehm empfand. Sie wusste, dass sie vor einer Verwandlung stand oder vor dem nächsten Schub.
Sie ging schneller. Jetzt auch aufrecht. Die beiden Männer waren zu weit weg, als dass sie ihr hätten gefährlich werden können. Sie würden Kiri nicht sehen, und sie konnte die beiden Männer auch nicht mehr entdecken.
Um das Ufer zu erreichen, musste sie einen Hang hinabgehen. Es war mehr ein Gleiten, denn es gab nichts, wo sie hätte mit den Fußen Halt finden können.
Sie rutschte weiter, erreichte den Weg am Ufer und musste sich nach rechts wenden, um unter die Brücke zu gehen.
Sie tat es mit langsamen Schritten. Sie spürte das Schlagen des eigenen Herzens. Sie nahm alles auf wie ein normaler Mensch, wenn auch mit geschärften Sinnen.
Die letzten Flammen schlugen aus den Fässern. Das Feuer reichte kaum aus, um den Platz unter der Brücke zu erhellen. So gab es mehr Schatten als Licht.
Wie ein Raubtier schlich sie weiter. Die Haut auf dem Gesicht hatte sich noch mehr gespannt, und aus ihrer Kehle drang ein leises Knurren. Sie spürte, dass sich hier unter der Brücke etwas ereignet hatte, doch noch wusste sie nicht genau, was es gewesen war.
Nur das Band zu ihrer Mutter, das spürte sie auch jetzt nicht. Es war zerrissen und…
Sie blieb so plötzlich stehen, als hätte man sie geschlagen. Es hatte sie schon das umgekippte Fass gestört, doch nun schaute sie genauer hin. Neben dem Fass lag eine Gestalt, die sich nicht mehr rührte.
Die zudem eine ungewöhnliche Position eingenommen hatte, denn sie Haltung war leicht krumm, und das deshalb, weil sie die Beine etwas angezogen hatte.
»Mutter…«
Sie schrie das Wort aus, und sie hatte auch das Gefühl, weinen zu müssen, aber sie ging trotzdem weiter, und ihr Gesicht verzerrte sich dabei immer mehr.
Dann hatte sie die Gestalt erreicht. Für einen Moment blieb sie stehen und schaute von oben her auf sie herab. Es war keine Wölfin, die dort lag. Dafür eine andere Person, ein Mensch, und es war eine Frau.
Kiri Bayonne brüllte auf!
Nein, das tat sie nicht wirklich. Sie röchelte, sie fühlte sich plötzlich auf einem schwankenden Boot, und sie schaffte es nicht mehr, auf den Beinen zu bleiben. So sackte sie nach vorn und fiel auf die Knie, während leise Jammerlaute ihren Mund verließen.
Kiri streckte ihre zitternden Hände aus. Dabei schnappte sie nach Luft. Sie schüttelte auch den Kopf. Sie spürte den Druck hinter den Augen, sie weinte, denn sie hatte erkannte, dass dieses verbrannte Etwas ihre Mutter war.
Das Feuer hatte bei ihr schrecklich gewütet und sie zu einem Unmenschen gemacht. Die Haut hatte sich zusammengezogen. Sie sah aus wie mit schwarzen Schuppen bedeckt, und sie schimmerte feucht.
Kein Laut drang aus Kiris Mund, als sie den Kopf senkte. Selbst das Weinen hatte aufgehört. Sie nahm den verbrannten Leichnam in die Arme, wobei Tränen aus den Augen rannen und im Fell versickerten.
Irgendwann legte die den Kopf zurück und schickte ein leises Heulen gegen die Decke. Es hörte sich schaurig und zugleich klagend an, und es war ein Ausdruck ihrer Trauer.
Aber es kam noch etwas hinzu. Ein anderes Gefühl, das nicht nur zu einem Werwolf passte, sondern das auch Menschen nicht fremd war.
Der Hass!
Der reine Hass auf die Personen, die ihrer Mutter das angetan hatten. Und sie wusste auch, wen sie mit ihrem Hass zu verfolgen hatte. Die beiden Fremden.
Noch lag Alice in ihren Armen. Dann sah es so aus, als wäre ihr der Körper zu schwer geworden, denn sie ließ ihn langsam nach unten sinken und legte ihn wieder zu Boden.
In ihrem Innern brodelte es noch immer.
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