1393 - Werwolf-Nacht
Sie erlebte Kälte und Hitze zugleich. Und die Haut auf ihrem Gesicht spannte sich wieder stärker. Sie hatte auch den Eindruck der Veränderung, und als sie über ihr Gesicht strich, da glaubte sie, dass sich die Nase verlängert hatte und näher an ihren Mund herangewachsen war.
Weitermachen. Nicht mehr an die Mutter denken, die nur mehr ein verbrannter Klumpen war. Jetzt konzentrierte sie einzig und allein den Hass auf die Personen, die das getan hatten.
Kiri Bayonne erhob sich wieder. Etwas stolpernd legte sie die nächsten Schritte zurück. Ihr Mund – schon fast ein Maul – stand offen. Weißlicher Geifer schimmerte dort und rann auch über die Unterlippe.
Den zweiten Toten konnte sie ebenfalls nicht übersehen. Auch neben ihm blieb sie stehen und schaute ihn sich an, aber zu ihm besaß sie keine innere Bindung. Sie kannte ihn nicht, aber sie sah, wie er ums Leben gekommen war.
Blut bildete eine Lache um seinen Kopf herum. Sie sah auch, dass die Kehle und der Hals zerrissen worden waren. Derartige Bisse konnte kein Mensch überstehen.
Und sie freute sich über den Toten. So hatte ihre Mutter vor dem Tod noch ein letztes Erfolgserlebnis genießen können.
Kiri Bayonne dachte daran, dass sie jetzt allein auf der Welt stand.
Sie und Alice waren ein Team gewesen, nun musste sie sich als Einzelgängerin durchschlagen und auf die Suche nach Opfer gehen.
Sie würde welche finden, und sie war jetzt gewarnt. Auf der Liste ganz oben standen die beiden Fremden. Als sie daran dachte, schob sie ihre rechte Hand wieder in die Tasche der Kutte.
Die Brosche war jetzt ihre einzige Hoffnung. Kiri holte das Schmuckstück hervor und betrachtete es. Sie sah das Gesicht als Hoffnungsträger an. Es war das Zeichen für eine gewisse Stärke, und sie wusste auch, dass sie nicht mehr allein war. Irgendwo existierte jemand, der ihr die nötige Kraft geben würde…
***
Das flache Land, die Dunkelheit, der schwere, finstere Himmel – das zusammen bildete die Kulisse, durch die wie gingen, auf der Suche nach einer Frau, die ich nur einmal sehr kurz zu Gesicht bekommen hatte.
Den Beweis, dass sie sich in unserer Umgebung aufhielt, hatten wir noch nicht erhalten. Wir gingen einfach nur davon aus, dass es so sein würde, und hatten auch darüber gesprochen, dass sich der Wagen nicht in Luft aufgelöst hatte.
Die Wölfin hatte sich auf eine Helferin verlassen müssen. Die Bestie gab es nicht mehr, aber ich glaubte fest daran, dass die Helferin nicht geflohen war.
So hatten wir uns auch geteilt. Suko suchte die Fläche links des schmalen Weges ab, ich hatte mir die rechte Seite vorgenommen, wo auch unsere beiden Autos standen, allerdings näher am toten Flussarm.
Meine Sinne waren gespannt. Ich rechnete mit Überraschungen.
Nach wie vor bewegte ich mich allein durch die Dunkelheit der Nacht.
Und ich hatte Glück!
Das Fahrzeug tauchte plötzlich vor mir auf. Es war ebenfalls dunkel, und deshalb hatte ich es so später gesehen.
Über meine Lippen huschte ein erleichtertes Lächeln. Der erste Schritt war geschafft, aber ich war trotzdem vorsichtig und misstrauisch, denn ich umrundete den Van zunächst.
Es war nichts Auffälliges zu entdecken, und es passierte auch nichts. Der Wagen hatte nicht mal abgedunkelte Scheiben, und als ich den Griff der Fahrertür anfasste, stellte ich fest, dass die Tür nicht verschlossen war.
Niemand hielt mich davon ab, in den Wagen zu steigen. Ich blieb hinter dem Lenkrad sitzen und schaute mich in der Enge hier um. Es gab keinen sichtbaren Hinweis auf die Person, die den Wagen gefahren hatten. Aber ich hatte eine Nase für bestimmte Gerüche und stellte fest, dass es hier nach Tier roch. Das konnte selbst ein Werwolf nicht vermeiden. Er hatte hier gesessen, und die Frau, die den Van gelenkt hatte, ebenfalls.
Nun nicht mehr.
Ich stieg wieder aus und fragte mich, was sie nach draußen getrieben haben könnte. Bei einer kurzen und doch intensiven Durchsuchung des Handschuhfachs hatte ich nichts gefunden, was irgendwelche Hinweise auf die Person der Fahrerin gegeben hätte. So war sie für mich nach wie vor namenlos.
Am Heck des Vans blieb ich stehen. Meine Blick konnten sich nur in die Dunkelheit bohren, denn eine Lichtquelle gab es nicht mehr.
Selbst die Ölfässer unter der Brücke waren jetzt leergebrannt.
Unter der Brücke!
An diesen drei Worten hakten sich meine Gedanken fest. Ich konnte mir vorstellen, dass sich jemand Sorgen um die Bestie machte. So war die Fahrerin unterwegs, um
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