140 - Kastell der namenlosen Schrecken
schwächte sich ab und verstummte schließlich, als Pierre sich in einen Gewölbekorridor hineinwagte. Er schien sich bis tief in die Eingeweide der Felsen um Bormes-sur-Olives zu erstrecken .Und zugleich in ihre tiefste Vergangenheit.
Unzählige tote Augen starrten ihn an.
Stimmen wisperten in seinen Gedanken. Jedes Wort bedeutete unendliche Qual und den dringenden Wunsch, endlich diese Welt verlassen zu können. Dazwischen mischte sich glühender Haß. Pierre ging weiter, obwohl oder weil er keines klaren Gedankens mehr fähig war. Vor ihm, von einem Stiefeltritt getroffen, sank eine schwarze Tür in Asche und Holzmehl zusammen. Eiserne Riegel, von Rost zerfressen, klirrten auf Steinboden.
Ein riesiges Gewölbe öffnete sich. Rundbögen, von Säulen gestützt, die mehr als einen Meter Durchmesser aufwiesen. Hier gab es nicht einmal mehr Ratten. Aber unter jedem Tritt knirschten und brachen Knochen. Sie leuchteten phosphorn in der Dunkelheit. Totenschädel lächelten Pierre an.
In dem Vorarbeiter war eine erschreckende Veränderung vorgegangen.
Pierre Macholan war ein lebendiges Wesen, das sich ins Zentrum hineinwagte. Er war verwirrt, voll von Todesfurcht, gleichzeitig zerrte sein Wunsch, dieser Hölle aus Gedanken und Eindrücken zu entfliehen, an ihm.
Der fahlweiße Körper eines Geschundenen tappte von rechts auf ihn zu. Aus der unsichtbaren Höhe des Gewölbes stürzte sich ein geflügelter Sukkubus in seinen Nacken und zerriß die schwere Arbeitsmontur.
„Hilfe … helft mir!" wimmerte Pierre.
Von links näherte sich eine schwarze Gestalt. Sie wirkte mit Kapuze und langwallendem Gewand wie ein Mönch der Inquisition. Von vorn näherte sich eine nackte Frau.
„Ich will nicht. Nein. Seht ihr nicht…" Pierres Gestammel und Wimmern verloren sich in den Tiefen der unterirdischen Hallen. Mit dem nächsten Schritt trat Pierre noch tiefer hinein in den Wahnsinn und den Tod.
Von zahllosen Wesen aus der schrecklichen Vergangenheit dieses Gemäuers schienen glühende Fäden auszugehen. Sie bohrten sich in Pierres Körper. Polternd fiel der Helm, klirrend barst die Lampe und erlosch. Als ob Hunderte und aber Hunderte geschundener Seelen versuchen würden, sich Pierres Körper und seines Lebens zu bemächtigen - so und nicht anders war es.
Das Leben wurde aus Pierre herausgesogen. Jedes dieser Gespenster, Geister, Wiedergänger oder Opfer aus vergangenen Zeiten wollte möglichst viel davon. Es war, als wäre plötzlich eine ungeheure Energie freigesetzt worden - von einer geheimen Quelle aus.
Pierres Körper schwankte hin und her. Dann fiel er leicht wie eine Feder nach vorn und schlug in den Moder der Jahrhunderte. Bis auf die letzten Schreie des Sterbenden waren alle Vorgänge in völliger Lautlosigkeit verlaufen.
Die Schar der Kreaturen, die eine Winzigkeit des blutvollen Lebens erhascht hatten, zogen sich wieder in das Reich zurück, aus dem sie plötzlich hervorgekommen waren wie Würmer unter einem flachen Stein.
Aber keines dieser Unwesen war jetzt so, wie es unendlich lange Zeit vorher gewesen war. Ein Funken des wahren Lebens war in jedem von ihnen. Und die Bereitschaft, sich noch mehr von wirklichen Leben zu holen, blieb vorhanden.
Jedes dieser Wesen, oder fast ein jedes, wollte sich an seinem Peiniger rächen. Dazu brauchten sie die Substanz des Daseins.
Der Zugang zu jener Ebene war weit offen. Ein Lebendiger hatte den Abgrund des langen Todes betreten.
Man fand die Leiche des Vorarbeiters erst am frühen Nachmittag. Und eine Stunde später packte der Schrecken die vierzigköpfige Mannschaft des Bauunternehmers.
Wenn man von Port Grimaud, Saint Tropez oder Ste. Maxime ins hügelige Hinterland des Departement Var fährt, auf einer schmalen Straße voller aberwitziger Kurven und Krümmungen, kommt man bald an eine Stelle, die seltsame Schönheit und zugleich düstere Verlassenheit ausstrahlt.
Heute, da es Straßenlaternen gibt, Stromleitungen und Verkehrsschilder, sieht dieses Stück Land keineswegs so melancholisch-trist aus wie Böcklins Bild von der Toteninsel. Aber es gehört nur ein wenig Phantasie dazu, sich auszumalen, wie es vor Jahrhunderten hier war: einsam, leer und gespenstisch.
Unweit der Straße, in der Mitte eines Hanges, steht ein langgestrecktes, altes Bauwerk, eine seltsame Mischung zwischen Wohnhaus und Schlößchen. Die Einheimischen nennen es Le Castellet. Die Chronik von Bormes-sur-Olives verzeichnet ein Geschlecht der Grimaldi-Seitenlinie als Erbauer dieser
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