140 - Kastell der namenlosen Schrecken
Neunjährigen.
Sie fürchteten, daß er zu Staub zerfallen würde, wenn sie ihn berührten. Das schreckliche Geschehen wurde diskutiert. Wilde Mutmaßungen wurden angestellt.
Nach einer Weile gingen sie wieder an die Arbeit. Aber niemand wagte sich weiter vor als bis zum Fuß der geschwungenen Treppe.
Der Leiter der Gendarmeriestation blickte schweigend dem Rettungsfahrzeug nach, das mit flackernden Drehlichtern das Grundstück verließ. Der schnurrbärtige Polizist schüttelte den Kopf, drehte sich zu Ducroq herum und murmelte: „Völlige Ratlosigkeit. So läßt es sich am besten umschreiben."
„Mir geht es nicht anders", knurrte der Maitre. „Ich bin schon froh, daß wir einen Mord oder Totschlag ausschließen können."
„Näheres wird die gerichtsärztliche Untersuchung ergeben. Erledigen Sie das mit der Witwe?" „Pierre verlor seine Frau vor zwei Jahren. Er lebte bei seiner Schwester."
„Verständigen Sie die Frau?"
„Natürlich."
Die Arbeiter in diesem Bereich waren vernommen worden. Jeder Polizist und auch der Notarzt sagten übereinstimmend aus, daß sie einen solchen Tod noch nie erlebt, einen derart zugerichteten Leichnam in ihrem Berufsleben noch nie gesehen hatten. Ein Körper, der innerhalb weniger Stunden zu einer Mumie verfiel… ?
„Was werden Sie an die Presse geben? Ich möchte nicht, daß Le Castellet als Spukhaus bezeichnet wird!" sagte der Bauunternehmer. Wichtige Arbeitszeit war ungenützt verstrichen. Immerhin stand der Baukran bereits, und die Männer räumten das löchrige Dach ab.
„Sie können sich vorstellen, Maitre, daß wir den Unfall nur knapp schildern. Mir ist auch nicht daran gelegen, daß sich hier neugierige Späturlauber auf dem Baugelände gegenseitig auf die Zehen steigen."
Die Arbeiter von
Ducroq Reconstruction
kamen aus vielen umliegenden Gemeinden. Die Arbeitslosigkeit war hier nicht sonderlich groß, aber um jeden Arbeitsplatz mußte man dankbar sein. Das Bauvolumen war hoch, und zahlreiche Zulieferbetriebe würden in und um Le Castellet gute Aufträge durchführen. Eine Menge Geld stand auf dem Spiel. Darüber hinaus rechnete man damit, daß die Arbeiter selbst einige Gerüchte verbreiten würden und, ohne es zu wollen, ihre eigenen Ängste anderen Menschen mitteilen. Der Tod von Pierre selbst erschütterte Ducroq tief, denn der Vorarbeiter war seit elf Jahren in der Firma.
Die Rätsel um den Tod verdrängten aber den Schmerz.
„Ich werde jedenfalls diesen merkwürdigen Raum genau untersuchen, bevor wir weiterarbeiten", sinnierte Ducroq. „Mit viel elektrischem Licht. Vielleicht haben giftige Dämpfe Pierre umgebracht und seinen Körper zersetzt."
„Sie wissen am besten, wie man eine solche Baustelle absichert", gab der Polizeichef zurück. „Die Liste Ihrer Arbeiter?"
„Bringe ich Ihnen heute abend oder morgen, bevor ich hierher fahre", versicherte Ducroq.
Er sah auf die Uhr. Noch eineinhalb Stunden konnte gearbeitet werden. Die Sonne stand schon tief, und ihre rötlichen Strahlen tauchten nun, ungehindert durch wild wachsendes Kraut, die Seite des Hauses in ein Licht, das zu dem tödlichen Geheimnis paßte. Gleichzeitig schüttelten sich beide Männer.
Aus dem Lautsprecher des wartenden Polizeifahrzeugs kamen quäkende Stimmen. Der Chef berührte den Arm des anderen Mannes und sagte:
„Ich wünschte, ich könnte sagen, wir sind fertig. Geben Sie acht, daß nichts mehr passiert. Ich ahne Schwierigkeiten."
Sie schüttelten einander kurz die Hände. Ducroq nickte sorgenvoll.
„Mir geht's nicht anders. Wir arbeiten an anderen Räumen weiter. Warten wir ein paar Tage, dann verliert sich einiges von dem Schrecken."
„Eine alte Erfahrung."
Der Raum im Erdgeschoß, ganz rechts von der Eingangsfront, war geleert worden. Sämtlicher Putz war abgeschlagen und fortgeschafft. Das Wasser trocknete auf dem Steinboden, der nach langer Zeit ans Tageslicht gekommen war. Unzählige Füße hatten fächerartig auseinanderstrebende Spuren in den harten Stein poliert. Von der Decke aus mächtigen Balken hingen einfache Leuchten mit weißen Plastikschirmen. Dort würde sich Jean-Jacques das Baubüro einrichten, wenn erst halbdurchsichtige Plastikverschläge in den Fensterhöhlen befestigt waren.
Ducroq winkte einem anderen Vorarbeiter und zog ihn zum Eingang des Schlößchens.
„Savel", sagte er. „Robert! Das alles ist schlimm genug. Du mußt jetzt den Vormann abgeben. Natürlich: besseren Lohn. Legt viel Licht in den Kellerraum. Aber geht niemals
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