1412 - Die Hellseherin
Tiefe drangen.
Die Luke hatten sie bei ihrer ersten Durchsuchung übersehen. Mit einer Art Brecheisen konnte die Klappe angehoben werden. Es war Harry Stahl, der mit einer Lampe in das Loch leuchtete und das Häufchen Elend sah, das dort zusammengekauert in diesem stinkenden Erdloch hockte, umhüllte von einer Decke.
Allen fiel ein Stein vom Herzen. Die Geisel war gefunden. Oliver konnte kaum stehen, so erschöpft war er. Sie zogen ihn hoch und mussten ihn halten, sonst wäre er auf der Stelle zusammengebrochen. Er war nicht in der Lage, etwas zu sagen. Anklagend hielt er seine rechte Hand hoch. Um den verletzten Zeigefinger war ein Tuch gewickelt, das nicht mehr sauber war.
Ein Arzt war ebenfalls mitgekommen. Er kümmerte sich um den Jungen, während Harry Stahl nach draußen ging. Er holte sein Handy hervor und rief eine bestimmte Nummer an.
Es meldete sich eine Computerstimme. Harry musste zunächst ein Codewort durchgeben. Erst dann wurde die Leitung freigeschaltet.
So konnte er mit seinem Chef reden und ihm die gute Nachricht überbringen.
»Gratuliere, Harry. Sie haben es tatsächlich geschafft.«
»Es war letztendlich relativ einfach.«
»Und der Täter?«
»Ich musste ihn erschießen.«
»Das ist zwar schade, aber man kann nichts machen. Der Junge war wichtiger. Was haben Sie für einen Eindruck von dem Täter?«
Harry war vorsichtig mit seiner Antwort. Deshalb sprach er recht allgemein. »Ich würde eher von einem Extremisten sprechen«, erklärte er. »Zumindest deutet sein Aussehen darauf hin. Das werden die Spezialisten noch genauer feststellen.«
»So denke ich auch. Was haben Sie vor?«
»Ich fahre nach Hause. Oder brauchen Sie mich?«
»Nein, das nicht. Falls sich etwas ergibt, rufe ich Sie an.«
»Bis morgen dann.«
»Ja. Und nochmals: Glückwunsch, Harry. Das war erstklassige Arbeit.«
»Schon gut.«
Harry sah die Dinge etwas anders. Schließlich war ein Menschen gestorben, auch wenn sich dieser Mensch wenig menschlich gezeigt hatte. Harry steckte so etwas nicht so leicht weg.
Er freute sich darauf, sich mit seiner Partnerin Dagmar Hansen unterhalten zu können. Dabei hoffte er, das seelische Gleichgewicht wieder zu finden.
Einen schriftlichen Bericht würde es noch geben. Damit konnte sich Harry Zeit lassen. Sein Chef würde die Eltern des Jungen informieren, und so ging alles seinen Weg.
Auf einer Trage wurde der Befreite abtransportiert. Der Arzt lief neben ihm her. Er trug eine Flasche mit Nährlösung. Durch einen Schlauch war sie mit dem Körper des Jungen verbunden.
Als sie in Harrys Nähe kamen, lächelte Oliver. Sprechen konnte er nicht, doch dieses Dankeschön reichte Harry Stahl völlig aus. Das gehörte zu den kleinen Freuden, die er in seinem Job erlebte.
Dann fuhr mit dem eigenen Wagen zurück, den er außerhalb des Waldstücks abgestellt hatte. Er fühlte sich müde und aufgeputschte zugleich.
Mit Dagmar telefonierte er bei einem Zwischenstopp. Auch sie zeigte sich erleichtert und würde in der gemeinsamen Wiesbadener Wohnung auf ihn warten.
Wenig später konnten sich beide in die Arme fallen. Harry ging sofort unter die Dusche. Er hatte das Gefühl, sich irgendeinen Schmutz abspülen zu müssen.
In einen Bademantel gehüllt kehrte er in die Küche zurück, aus der ihm Kaffeeduft entgegenwehte.
»Ja, das tut jetzt gut«, erklärte er. Gegenüber seiner Partnerin nahm er Platz, trank die ersten Schlucke, lehnte sich dann zurück und schloss die Augen.
Die Bilder kehren zurück. Er sah sich am Boden liegen, er sah diesen Kidnapper, der ihn mit seinem verdammten Schwert zerstückelt hätte, und Harry bekam noch jetzt Herzklopfen. Er war froh, sich alles von der Seele reden zu können. Dagmar Hansen war eine gute Zuhörerin, die ihn auch nicht unterbrach.
»So ist das nun mal«, erklärte Harry. »Ich bin um die entscheidende Sekunde schneller gewesen. Es hätte auch umgekehrt sein können.«
»Dann hat die Familie von Hausberg dir einiges zu verdanken, Harry.«
Er gab zunächst keine Antwort und sah Dagmar an. Sie war vom Job gekommen und hatte sich noch nicht umgezogen. Zum blauen Hosenanzug trug sie eine weiße Bluse. Das naturrote krause Haar stand in einem interessanten Kontrast zu der dunklen Farbe. Sommersprossen verteilten sich auf ihrem Gesicht, und ihre Augen zeigten ein helles Grün.
Harry winkte ab. »Okay, ich habe den Jungen gefunden. Aber das wäre nicht passiert, wenn ich nicht Hilfe gehabt hätte. Da hat Olivers Vater schon etwas Gutes
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