1414
verfolgen. «Ist er in der Luft? Fliegt er überhaupt zum richtigen Ort? Ist er gelandet und hat vergessen, uns zu funken?» Die technischen Hilfsmittel werden immer raffinierter, Webcams, die auch nachts eine brauchbare Auflösung bieten. Zurzeit läuft die Vorbereitung zur Umstellung auf ein elektronisches Leitsystem. Statt dem jetzigen Handprotokoll verarbeitet man dann die Einsätze direkt am Computer. 2013 sollte es so weit sein. «Wir wurden eingebunden, konnten mitreden in der Spezifikation der Software.»
Vor Ereignissen wie dem Tsunami 2004 hat Claudia Grätzer einen Riesenrespekt. Sie hatte Nachtdienst, als es losging. Die Katastrophe hielt die Einsatzleiter tagelang in Atem, brachte sie auch an den Rand ihrer Kräfte. Die Versicherungen organisierten Sammeltransporte mit grösseren Flugzeugen. Die Rega schickte ihre Ambulanzjets, «wir führten eine Datenbank mit allen Patienten». Seit Jahren deponiert Grätzer den Wunsch, eine Katastrophe mal richtig üben zu können. Jede sei anders, klar, Improvisieren gehöre dazu, aber ein paar grundlegende Massnahmen hätte sie gern fixiert. Vorbereitungen dazu sind im Gange.
Turbulenzen erlebte sie, vor ein paar Jahren, auch intern. Der Führungsstil der damaligen Vorgesetzten brachte Unruhe und Unzufriedenheit und vertrieb Mitarbeiter. «So schwierig die Zeit war für jene, die durchhielten: Es hat sich gelohnt. Die neuen Leute brachten eine erfreuliche Blutauffrischung. Die neue Leitung hat eine andere Vista, lässt uns wieder mehr mitdenken und mithelfen. Kurz, eine fruchtbare Ära.»
Claudia Grätzer, 1961 geboren, aufgewachsen in Dübendorf (ZH). KV-Lehre, Alleinsekretärin im Para-Centro Locarno, parallel dazu die Fallschirmspringer-Ausbildung. 1984 bis 1989 temporäre Büroeinsätze, Konzentration auf Spitzensport Fallschirm. 1990 bis 1999 Direktionssekretärin UBS Zürich. Seit 2000 Einsatzleitung Rega.
«Jede Rettung ist ein Stück Improvisation»
Marco Salis, Rettungsspezialist Helikopter
Kantonspolizist und Rettungsmann Marco Salis,
seit über vierzig Jahren als Allrounder im Engadin
unterwegs
Am 14. August 2008 wurden sie zuletzt gesehen, Jakob Bacchini und Petra Cermak. Beim Zustieg von der Tschierva-Hütte zur Fuorcla Prievlusa. Dann verschwanden sie spurlos. Wie sie «fehlen» seit den 1930er-Jahren bis heute im Berninagebiet etwa 25 Personen. Manchmal muss Marco Salis Überreste bergen, Kleiderfetzen, Knochen.
«Sucheinsätze sind aufwendig, zum Teil nervenaufreibend. Eine genauere Lokalisierung von Vermissten via Natel wäre technisch möglich, ist aber problematisch wegen des Datenschutzgesetzes. Heute wird oft vorschnell alarmiert. Von zehn Vermisstmeldungen führen zwei, drei zu einer Suchaktion im Gelände. Gründliche Abklärungen sind deshalb unabdingbar: Wann sind sie gestartet? In welcher Ausrüstung? Kennen sie das Gebiet? Wo steht ihr Auto? Hat sie jemand gesehen? Nahmen sie eventuell einen anderen Weg? Sind sie in einer Hütte? Wir rückten auch schon aus und fanden die Gesuchten frohgemut unter einem Stein sitzen: ‹Was macht ihr denn da? Wir haben euch nicht gerufen.›»
Marco Salis berichtet von zwei Bergsteigern, die bei schlechter Witterung loszogen und annehmen mussten, dass weiter oben Schnee fällt. «Am Abend telefonierten sie um Hilfe: ‹Wenn ihr nicht kommt, sind wir morgen tot.› Ein Flug war unmöglich, eine terrestrische Rettung nicht zu verantworten. ‹So schnell ist man nicht tot›, beruhigte ich. Am nächsten Morgen war das Wetter besser, die beiden wohlauf. Das sind keine leichten Entscheide. Geht es schief, müssen wir dafür geradestehen. Einem Anwalt, der uns Fehler vorwirft, empfehle ich, mal selber dort hinaufzusteigen. Der Anwalt steht heute rasch vor der Tür. Sobald zwei Personen involviert sind, vor allem bei Unfällen auf der Skipiste, will keiner schuld sein. Ein Restrisiko bleibt immer; das wird je länger, je weniger akzeptiert.»
Um die 2000 Einsätze im Gebirge hat Marco Salis bisher geleistet. Den Fall von Vater und Sohn Utz wird er nicht vergessen. «Am 14. Februar 2010, 19.13 Uhr, kam die Meldung. Ich rechnete: spät aufgebrochen, fast normal, dass sie noch nicht da sind. Sind vielleicht auf einer anderen Route zurückgekehrt oder auf der Strasse zu Fuss unterwegs. Um 21.38 Uhr starteten wir – fanden Spuren, flogen zum Sattel zwischen Julierpass und Engadin, entdeckten ein winziges Schneebrett, dachten, unmöglich, dass dort jemand drin ist. Dann glaubte ich, etwas Dunkles zu sehen.
Weitere Kostenlose Bücher