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Der Heli ist schnell vorbei, zudem wirbelt er dauernd Schnee auf. Wieder zurück, nochmals über das Schneebrett, nochmals und nochmals. Dann sahen wir den dunklen Fleck deutlich. Um 22.11 stiegen wir zu zweit aus dem schwebenden Heli. Es war Davids Hand. Zwei Tote, war mein erster Gedanke. Dann das freudige Erschrecken: David bewegte die Hand. Der Rettungssanitäter begleitete ihn ins Spital. Der Arzt und ich suchten weiter – und fanden den Vater in der Nähe, tot.»
Marco Salis, im Bergell aufgewachsen, Bauernbub und Hirte, wanderte viele Male mit den Kühen über den Septimerpass ins Oberhalbstein. Der Dreizehnjährige kletterte halsbrecherisch. Der Sechzehnjährige begleitete die Rettungskolonne zu einem abgestürzten Flugzeug. Der Einundzwanzigjährige sass erstmals als Retter im Helikopter. Im Büro hielt er es nicht aus; er wurde Polizist. «Kein Buchhalterposten. Man weiss nie, was der Tag bringt.»
Alpinpolizist, Rettungschef, Flughelfer, Rettungsspezialist Helikopter, leistet auch Erste Hilfe: ein Multijob. Wenn für Pilot und Arzt der Einsatz zu Ende ist, beginnt für den Polizisten die administrative Arbeit: Protokolle schreiben, die Angehörigen benachrichtigen, Ämter, ausländische Botschaften.
Seine Gattin und die beiden Söhne müssen viel Verständnis aufbringen. Wie oft plante er eine Wanderung mit der Familie, unterwegs piepste das Telefon, fünf Minuten später stand der Heli neben ihm. Salis’ Arbeitsjahr dauert elf Monate. Der September gehört der Hochwildjagd im Bergell – das ist seine Passion.
Marco Salis hat die Entwicklung von der rudimentären zur modernen Rettung miterlebt. Er erinnert sich an die ersten Flughelferkurse unter Fritz Bühler. An die runden farbigen Ölfässer beim Bahnhof Kleine Scheidegg. «Wir standen auf den Fässern mit einem riesigen Funkgerät, ohne Helm, und mussten den anfliegenden Heli einweisen. Pilot Christian Bühler war noch wenig geübt. Irgendwann packten wir das am Heli befestigte Knotentau, nahmen den «Teller» zwischen die Beine und dirigierten im Bambini-Code, der nationalen Militärpilotensprache: ‹Alto, alto, basso, lili zwei Meter, rera fünf Meter!› Wir waren ungesichert, der Heli leistungsschwach, das Ganze noch in den Kinderschuhen.»
Er erinnert sich an seinen ersten Einsatz mit der Rettungswinde, zusammen mit Beat Perren und Günther Amann von der Air Zermatt. «In der Bernina-Westwand harrten zwei Engländer auf Hilfe. Rettungswinde? Wir hatten ja keine Ahnung. ‹Wer geht?› – ‹Du kannst schon …› Ein Kollege und ich wagten es; wir waren die Jüngsten – und ledig …»
Marco Salis wurde zum Rettungsspezialisten mit Helikopter – und immer dann aufgeboten, wenn eine Bergung heikel, das Gelände steil, schwierig, absturzgefährdet ist. Sechs, sieben Rettungsspezialisten teilen sich im Engadin die jährlich dreissig bis fünfzig Einsätze, so bleiben sie in Übung. «Die eigene Sicherheit geht immer vor. Kann sein, dass ein Retter sich abseilt und erst dann merkt: zu gefährlich. Könnte man es anders machen? Wie? Machen wir es überhaupt? Auch bei der Suche nach Lawinenverschütteten ist es wichtig, Gefahren zu erkennen. So lässt sich das Risiko minimieren. Statt fünf Minuten benötigen wir dann vielleicht eine halbe Stunde für die Bergung. Jede Rettung ist ein Stück Improvisation – trotz allen Beschränkungen, Vorschriften, Formularen.»
Marco Salis, 1948 in Soglio (Bergell) geboren und aufgewachsen. KV-Lehre im Tessin. Polizeischule in Chur. Mitbegründer und Leiter der Alpin-Spezialistengruppe der Polizei. Verantwortlich für Gebirgsausbildung innerhalb des Korps Kapo GR und schweizerische Polizeigebirgskurse. Bergführer, Rettungschef SAC Bernina. Rega: 1970 bis 1995 Flughelfer (Vorgänger des Rettungssanitäters). 1996 bis 2010 Rettungsspezialist Helikopter (RSH), verantwortlicher Leiter RSH auf der Einsatzbasis Engadin. Als RSH nach wie vor bei Heli Bernina tätig, die «Zweiteinsätze» für die Rega fliegt.
Siehe Porträts Ueli Bärfuss , David Utz
«Ich bin ein Teammensch»
Fausta Gillis, Helikoptermechanikerin
Fausta Gillis im zweifachen Anlauf
zu ihrer Traumstelle
Sie freut sich jeden Morgen auf ihre Arbeit, auf die Kollegen. «Wir sind mal da, mal dort. Mal draussen am Testfliegen, dann wieder im Stress. Wir sind aufeinander angewiesen. Ich bin ein Teammensch, qualifiziert als ‹sehr kommunikativ›, was vielleicht eher negativ gemeint ist. Ich bin die einzige Frau unter den Mechanikern und bin
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