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Unterkiefer, die Mandibula, unter dem Mikroskop lag. «Sensationell, aber keine Heuschrecke mehr.» Er erlebte, wie der Chemieprofessor eine Studentin abkanzelte: «Wir haben hier keine Zeit für Fragen.» Keine Zeit für Fragen? Das falsche Studium, die falsche Uni.
Architektur hätte es sein müssen. Die Kombination seiner Fähigkeiten: mathematische Genauigkeit und zeichnerische Fantasie. Oskar Mack schrieb sich nicht an der ETH ein, sondern klopfte nochmals bei der Rega an. Chefpilot Bruno Kugler rief ihn direkt nach Basel. Der Learjet musste nach einem Service nach Zürich geflogen werden. Es schneite. Kugler hatte es nicht eilig. Endlich im Cockpit, befahl er: «Your controls.» Mack sass zum ersten Mal am Steuer eines Learjets, flog aber nahezu perfekt nach Zürich – und wurde Kopilot.
Das war 1979 – und der Lohn kein Swissair-Piloten-Salär, das heisst knapp für eine Familie mit drei Kindern. Auch Gattin Naomi arbeitete später zehn Jahre bei der Rega, als Flight-Nurse. Präsident des Rega-Pilotenvereins, kämpfte Mack für bessere Arbeitsbedingungen, flexibleres Pensionsalter, fruchtbareren Austausch zwischen Captains und Kopiloten, ein gerechteres Lohnsystem, nicht zuletzt zwischen Helikopter- und Jet-Piloten. «Socialholic», neckten die Kollegen.
Zwölf Jahre Kopilot. Das musste genügen. Mack brauchte frische Motivation, nicht unbedingt mehr Lohn. Mit dem Slogan «Linksrutsch bei der Rega» lud er im März 1992 zum Captain-Fest. Nun sass er links im Cockpit, nun bestimmte er das Klima, sorgte für mehr Freude und weniger Stress in der Crew, für weniger Druck zwischen Fliegern und Medizinern.
Chefpilot Christian Schweizer förderte und forderte ihn. Er war laut Mack der Pionier, professionalisierte und erneuerte den Bereich Jet mit Fachkenntnis und Weitsicht. Schweizer lancierte 1992 auch das Crew-Resource-Management-Training – die Kunst, alle menschlichen und technischen Ressourcen in einen Entscheid einzubinden. «Achtzig Prozent der Unfälle basieren auf Kommunikationsfehlern im Cockpit.» Oskar Mack wurde CRM-Trainer, das Sicherheitstraining sein Kind. «CRM ist heute lizenzrelevant. Bei der Ausbildung wurde nie gespart, deshalb ist das Niveau so hoch. Die Rega betreibt einen Riesenaufwand und machte stets mehr, als das Gesetz vorschreibt.»
Mit der Flut an Sicherheitsvorschriften müsse man sich nicht nur abfinden, sondern auch beschäftigen. «Die meisten Regeln machen Sinn.» Doch in einer schwierigen Situation kann die Crew – dies seit dem Swissair-Absturz bei Halifax (1998) – sämtliche Weisungen über Bord werfen und «zusammen die bestmögliche Lösung finden».
Technische Probleme? Selten. Heikle Situationen? Immer wieder. Zum Beispiel der Anflug auf den winterlichen Flughafen Gander in Neufundland: «Der Wind bläst von der Seite, man hat das Gefühl, die Piste fliehe weg, ‹blowing snow› nennt man das.» Fliegerische «Kunststücke»? Passierten. Übermüdet auf eisiger Piste nach siebenstündigem Nachtflug landen. Im Gewittersturm anfliegen und landen statt warten oder durchstarten.
Oskar Mack riskierte auch mal die Kündigung, weil er sich weigerte, einen Befehl auszuführen, der ihm unsinnig vorkam. Dem Chef war der Auftraggeber wichtiger als die Verhältnisse. «Fliegen bei 180 Stundenkilometer Gegenwind, schlechtes Wetter in Almaty, ausstehende Überflugsbewilligung China – neu zu planende Route: Hongkong–Ulan Bator (Mongolei)–Nowosibirsk–Köln.» Mack verschob die Repatriierung um zwölf Stunden. Das medizinische Team fand den verletzten Deutschen wohlversorgt im Spital. Beim Bier in Hongkong die telefonische Drohung des Chefs: «Du übernimmst die Verantwortung für alles!» «Richtig», meinte Mack, «die Crew vor Ort entscheidet.»
Schwierige Entscheidungen gab es zuhauf. Oskar Mack erinnert sich an die junge Frau mit inneren Verletzungen nach einem Autounfall in Senegal. Starke Blutungen im Bauch. Ihr Zustand verschlechterte sich während des Flugs. Zurück nach Dakar? Noch war es möglich. Nachher war nichts als Wüste. Der Arzt wollte weiterfliegen; die Patientin wurde in Paris erwartet. Dort hingen die Wolken tief. Lyon war «offen», Genf eine Variante. Wir landeten schliesslich doch in Paris, aber nicht in Le Bourget, wo die Ambulanz bereitstand, sondern in Charles-de-Gaulle bei Kategorie-2-Bedingungen: Das heisst, dreissig Meter über Boden, also kurz vor der Piste, muss der Pilot 300 Meter weit sehen können.
Es gibt Patienten in solch
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