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sie jährlich vierzehn Tage auf der Intensivstation im Spital von Morges.
Das breite Spektrum medizinischer Probleme fasziniert sie, Malaria zum Beispiel oder plötzlich ein psychiatrischer Fall. «Wir müssen schnell denken, erfinderisch, flexibel sein. Im Spital kann ich den Schrank aufmachen oder jemanden rufen. Im Flugzeug sind wir zu zweit – und haben, was wir haben. Ich legte auch schon, die Taschenlampe im Mund, auf dem Flughafenboden einen Blasenkatheter ein. Heute können wir das im Flugzeug machen, kreativ müssen wir immer noch sein.»
Es gab heikle Situationen: falsches Material, zu wenig Medikamente. «Debrouille-toi!», sagen wir Welschen. Kühlen Kopf bewahren. Nicht immer einfach. Bin ich müde, mache ich einen Doppelcheck, frage den Arzt: ‹Hast du ein Milligramm gesagt?› – ‹Das sind doch zwei Milliliter…›»
Manchmal weiss sie bereits am Vorabend, wohin es geht, manchmal erst kurz vor dem Flug. Seit etwa zehn Jahren darf die Crew zu Hause warten. Innerhalb einer Stunde hat sie bereit zu sein. Früher war es eine halbe Stunde – «solange es kein Unispital gab im Tessin, holten wir dort oft Patienten, wenn der Helikopter wegen schlechtem Wetter nicht fliegen konnte». Früher war auch die Abklärung vor einer Repatriierung manchmal schwierig bis unmöglich. «Ein Telefon, und wir waren in der Luft. Heute sind wir besser informiert, kennen den Fall meist recht genau. Die Medizin im Ausland ist ja zum Business geworden, Spitäler in Thailand sind ebenso gut wie unsere.»
Schwer kranke oder verunfallte Kinder belasten die Krankenschwester. «Tränen erlaube ich mir, die Angehörigen reagieren positiv auf meine Emotionen. Zu Hause versuche ich zu vergessen.» Sie liest, wandert, fährt in die Berge. Früher höchst betriebsam und supersportlich, braucht sie heute solche Herausforderungen nicht mehr. Nach unserem Gespräch fährt Anne-Lise Stuby nach Hamburg, holt ihren zum Wohnmobil umgebauten Landrover Pickup ab. «Mein Traumauto; ich kann darin leben.» Zum Beispiel an ihrem Lieblingsplatz ganz hinten im Muotatal.
Ihr erster Berufswunsch war Kaugummiverkäuferin, dann wollte sie einen Kiosk führen oder eine Papeterie. Büro, Papier, Kaugummi mag sie immer noch. Sie bewunderte die Tante, die Krankenschwester war und Mini Cooper fuhr – kaufte einen Mini und lernte Krankenschwester. «Für meine Diplomarbeit über das Rettungswesen kontaktierte ich die Rega und erfuhr, dass diese neben Helikoptern auch Flächenflugzeuge hat. Eigentlich wollte ich als Rettungssanitäterin im Helikopter arbeiten. Leider waren Frauen vor dreissig Jahren noch ausgeschlossen; es gab ja auch noch keine Lokführerinnen oder Bundesrätinnen.»
Auf den Jets war das anders. Die Rega verlangte Kenntnisse in Intensivmedizin und Spanisch. Anne-Lise Stuby absolvierte in Genf die zweijährige Ausbildung und arbeitete noch drei Jahre auf der Intensivstation. Für das Diplom stellte sie sich eine Broschüre mit dem Gelernten zusammen – daraus entstand ein offizielles Fachbuch für Intensivpflege. Sie meldete sich wieder bei der Rega. «Wir suchen grad jemanden.» Dann hörte sie sechs Monate nichts. Telefonierte wieder. «Wir sind grad umgezogen, Ihr Dossier ist verloren gegangen.» Sie ging mit ihrer Mutter und dem Langenscheidt Deutsch–Französisch zum Vorstellungsgespräch. «Kommen Sie mit auf einen Einsatz, damit Sie entscheiden können.» – «Ich habe schon entschieden, mir gefällt es», sagte sie. «Voilà.»
Seit April 1985 engagiert sie sich für die Rega. Wer über zwanzig Dienstjahre geleistet hat, darf mit 58 aufhören. Die Limite liegt bei sechzig. Noch freut sie sich auf jeden Einsatz – «es bleibt der schönste Job». Anne-Lise Stuby hat ein grosses Stück medizinischen und technischen Fortschritt erlebt. Flog noch Learjet, dann Hawker Siddeley HS, jetzt Challenger. Ist sie nicht unterwegs, arbeitet die Stellvertreterin des Pflegedienstleiters im Büro, etwa 25 Prozent der Zeit. Sie nimmt an Sitzungen teil, erstellt Statistiken und Dienstpläne, ist zuständig für die Dokumente im Intranet, für das Quality-Management, für den Etat der Flugzeuge. Und sie hat ein offenes Ohr für das gute Dutzend Pflegefachpersonen.
Welches sind die prägendsten Erlebnisse? Ein gefährlicher Einsatz in der Wüste, es ist lange her, 1986. «Wir flogen mit dem Rega-Jet nach Niamey, der Hauptstadt von Niger. Ich reiste mit einem Buschpiloten und dem Arzt im gemieteten Missionarsflugzeug weiter nach Gao in
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