1414
Frauen führen die riesige Apotheke. «Wir bestellen Material und Medikamente, kontrollieren die Geräte, desinfizieren, reparieren, führen Inventarlisten. Aus hygienischen Gründen waschen wir auch die Bettwäsche der Patienten selber. Für Einsätze mit Linienflugzeugen stehen fixfertige Koffer bereit, ein jeder ein kleines Spital. Vieles ist Routine. Man muss Hausfrau sein für diese Arbeit. Prioritäten setzen können. Flexibel sein. Ein bisschen Lebenserfahrung mitbringen. Eine besondere Herausforderung sind Geräte, die nicht funktionieren. Im Rettungsdienst sind sie manchen Belastungen ausgesetzt: heftigen Turbulenzen, harten Landungen, löchrigen Strassen.»
Ruth Schuler schlägt im Handbuch nach, ruft den Hersteller an, tüftelt an den Ursachen herum, was so spannend sei wie Detektiv spielen. «Intensivpflegefachpersonen müssen technisch versiert sein. In meiner Ausbildung schien mir am Anfang die Technik überdimensional, später rückte der Mensch wieder ins Zentrum.»
Wie kamen Pflegefachfrau und Rega zusammen? Eine Flight-Nurse erzählte von ihrer Arbeit. Da geriet Ruth Schuler ins Träumen. In dieser Zeit begegnete sie ihrem späteren Mann, den sie gekannt, aber aus den Augen verloren hatte. Inzwischen war der Pflegefachmann Rettungssanitäter auf dem Rega-Helikopter. Der jungen Frau nahm es «doppelt den Ärmel rein».
Noch traute sie sich die Arbeit nicht zu, absolvierte einen Kurs als Lufttransporthelferin, flog drei Einsätze – es klappte. Dann arbeitete sie ein Jahr als Pflegefachfrau auf den Jets. «Beruflich die schönste Zeit.» Doch die Schichtarbeit des Paares war nicht unter einen Hut zu bringen. Deshalb war sie vierzehn Jahre vor allem für ihren Mann und die zwei Töchter da, bevor sie wieder zur Rega kam.
Obwohl bald 25 Jahre her, sind Ruth Schuler einzelne Einsätze noch in lebhafter Erinnerung – nicht weil Krankheitsfall oder Destination spektakulär waren, sondern weil die kurzen Begegnungen nachhaltig wirkten. «Einmal repatriierten wir eine Frau mittleren Alters. Sie wusste, dass sie sterben wird, erkannte meine Schwangerschaft, freute sich über alles, nahm mich in die Arme, wünschte mir alles Gute. Ich bekomme noch immer Hühnerhaut, wenn ich daran denke.»
Oder das Strahlen einer Patientin, die schon auf dem Hinflug nach Afrika erkrankt war und seither in einem Hotelzimmer lag, weil es kein Spital in der Nähe gab. «Wir trugen sie am Abend vor dem Rückflug auf einer improvisierten Liege ans Meer.» Oder einmal, ebenfalls in Afrika, durfte die Rega-Crew, bei Angehörigen des Patienten untergebracht, um Mitternacht unter dem Sternenhimmel im Pool noch ein Bad nehmen …
Fliegen, fremde Länder, fremde Kulturen faszinieren Ruth Schuler nach wie vor. Sie geniesst heute die sporadischen Aufgebote als zusätzliche Pflegefachfrau. Anfang März 2012 etwa auf einem Routineeinsatz, Berlin–Zürich mit einem Linienflugzeug. «Alles klappte – und doch bewegt es mich jedes Mal, in einer relativ kurzen Zeit intensiv mit jemandem zusammen zu sein, einem Patienten, den Angehörigen. Zu erleben, wie die Leute sich öffnen, ihre Lebensgeschichte erzählen. Das ist enorm befriedigend, im Unterschied zum Spitalalltag, der für Zwischenmenschliches kaum Zeit lässt. Unfall oder Krankheit an einem fremden Ort ist immer eine Stresssituation. Dann kommt die Rega-Crew, spricht schweizerdeutsch, man sieht die Erleichterung, spürt die Dankbarkeit, ob das im nahen Berlin ist oder dem exotischen Hawaii.»
Sie erinnert sich an die dramatische Rückführung eines jungen Mannes mit einer Tetraplegie. «Er war unheimlich tapfer, wusste genau, wie es um ihn stand, doch als wir landeten, flossen die Tränen. Solche Emotionen berühren mich. Es ist noch nicht lange her, flog ich mit, um vier kleine Kinder zu betreuen, deren Mutter tödlich verunfallt, der Vater schwer verletzt war. Furchtbar tragisch, fand ich. Wo bringt man diese Kinder jetzt hin? Die Angehörigen empfingen uns, und siehe, die Kinder entspannten sich im Kreise ihrer Verwandten. Zu sehen, sie sind geborgen, aufgehoben, war beruhigend. Ich denke oft an diese Kinder und frage mich, wie es ihnen wohl geht.»
Die Fünfzig-Prozent-Stelle in der Logistik hingegen belastet sie nicht und lässt Energie für anderes. Es geht nicht immer um Geräte. Die Abteilung bildet einen ruhigen Pol innerhalb der Rega, eine Art Sorgenstelle für Medizinisches wie Seelisches. Hier wird eine Schnittwunde versorgt, dort ein Verband gewechselt. Ruth
Weitere Kostenlose Bücher