1421 - Zeitzeugen
„Wissen sie denn überhaupt, was sie dir damit angetan haben? Sie wissen es!"
Bei den letzten Worten ließ er seine Kulleraugen rollen.
Niemand kann ermessen, was es für einen Telepathen bedeutet, die Gedanken anderer nicht mehr hören zu können, wenn er nicht selbst Telepath ist.
Telepath sein, hieß ja nicht, ständig in anderer Leute Gedanken herumzuschnüffeln, obwohl er diese Unart in gehörigem Maß praktizierte. Und selbst wenn nicht, so waren die anderen der Meinung, daß er nichts anderes im Sinn gehabt habe, als eines jeden Privatsphäre auszuspionieren. „Es sei ihnen verziehen", sagte der Mausbiber und streckte sich auf der harten Liege aus.
Nein, Telepath sein, hieß vor allem, eine beständige Flut von Gedanken aller um einen herumscharwenzelnden denkenden Wesen unbewußt wahrzunehmen, sie als permanentes, nicht endenwollendes Hintergrundrauschen zu hören. Damit mußte ein Telepath leben, er konnte nicht einfach abschalten, und irgendwann wurde dieses Hintergrundraunen zu seinem Bestandteil seines Lebens. Zu einem wichtigen Lebensnerv.
Und wenn dann jemand einfach diesen Nerv durchtrennte und nur noch Schweigen herrschte, dann war es die Hölle. „Psychoterror ist das! Man will mich in den Wahnsinn treiben."
Wie lange würde es denn noch dauern, bis es mit ihm soweit war? Wie lange dauerte es denn schon? Er hatte bis jetzt fünfzehn Mahlzeiten bekommen, Pillenkost. Rechnete man drei für jeden Tag, dann mußte er diese Tortur bereits fünf Tage ertragen.
Er hatte in dieser Zeit noch niemanden zu sehen bekommen, nicht einmal einen schleimigen, tentakeligen Alien: genau so stellte er sich seine Kerkermeister vor.
Gemein, sadistisch, hinterhältig, voller Schadenfreude und Lust an psychischer Gewalt, „Sprich doch einer mit mir! Ich habe viel zu erzählen. Ich kann euch die ganze Geschichte erzählen, wie es uns in diese Zeit verschlagen hat und damit alle Unklarheiten ausräumen. Man braucht mich nur zu fragen."
Klar fragte niemand. „Wenn ihr das alles nur anstellt, um mir ein Gelübde abzuringen, dann könnt ihr das haben. Ich schwöre bei allem, was mir heilig ist, daß ich nie, nie mehr wieder in meinem ganzen Leben, in anderer Gedanken wildem werde."
Ein leises Surren drang zu ihm, verstummte gleich darauf wieder. „Essenszeit!" sagte der Mausbiber abfällig. Es war seine sechzehnte „Mahlzeit" - Frühstück, gewissermaßen. „Was für Pillen gibt's denn heute? Die roten und beigen, oder grüne und gelbe?
Welche, die nach Haferbrei schmecken oder nach Cornflakes, mit ein bißchen Honig - und Käsearoma? Wißt ihr was, ihr sadistischen Monstren? Ich pfeife drauf."
Er rührte sich nicht von der Liege. Er war diesmal fest entschlossen, standhaft zu bleiben und in den Hungerstreik zu treten.
Es gibt gewisse Vorsätze, an die halten sich Mausbiber eisern, es gibt aber auch Versuchungen, denen ein Gucky nicht lange widerstehen kann. Nicht daß er ein Vielfraß war, aber wenn sich Hunger einstellte, dann sollte man ihn auch stillen, war seine urbane Lebensphilosophie. Alles andere war widernatürlich. Und das mit dem Hungerstreik war so ernst nicht gemeint gewesen.
Der Mausbiber erhob sich ächzend und ging zu der Stelle der Multifunktionsleiste, unter der die Nahrungsklappe in mattem Grün blinkte. Er griff durch das blinkende Energiefeld, das ein eigenartiges Kribbeln auf seinem Pelz verursachte, langte nach den Pillen und - hielt irgend etwas Kühles, leicht Feuchtes, Hartes, fast Knorriges und ein wenig Gebogenes, konisch spitz Zulaufendes zwischen den Fingern. „Jetzt setzt das Delirium ein, ich beginne zu phantasieren", sagte er laut.
Er zog die Hand aus der Klappe und betrachtete ungläubig die Mohrrübe darin.
Er betrachtete sie unglaublich lange, bevor er herzhaft hineinbiß. „Also, wenn das eine Sinnestäuschung ist, dann aber eine, die überaus köstlich schmeckt. Und wenn der Wahn so aussieht, gebe ich mich ihm gerne hin."
Blieb die Frage, wer ihm diese Kostlichkeit zum Geschenk gemacht hatte.
Wer wußte denn heutzutage noch über die Vorliebe von Mausbibern Bescheid?
Gucky bekam keine Antwort.
*
Eirene war deswegen immer noch sauer auf ihren Vater, daß sie sich einer Hypnoschulung hatte unterziehen müssen.
Daran änderte auch nichts die Tatsache, daß ihr das auf diese Weise memorierte Wissen bei dem Verhör des Unsichtbaren sehr zustatten kam.
Sie konnte ihre Geschichte in einem Zug erzählen, eben wie auswendig gelernt. Sie war jedoch clever
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