143 - Rulfan von Coellen
Bunkerzivilisation; sein klares, wenngleich auch mit schwerer Zunge gesprochenes Germaan gar in eine, die nicht allzu weit entfernt sein konnte.
Calundula verschwendete kaum einen Gedanken an all diese teilweise widersprüchlichen Beobachtungen. Sie erkannte den Fremden allein an seiner Stimme. An der Stimme, die in ihrem Kopf widerhallte wie in der Kathedrale von Coellen oder in einer Höhle. Ja, sie erkannte ihn an jener Stimme, die nur eine Möglichkeit gewährte: Gehorsam.
Guur war einer von IHNEN. Selbst wenn er in Gestalt eines Nashorns erschienen wäre, hätte sie ihn erkannt.
Am Vormittag erreichten sie die Kuppe des Marienthaler Weinbergs. Auf den Baustellen rund um das restaurierte Jagdschloss arbeiteten bereits Männer und Frauen der Bunkerkolonie.
Seit SIE gekommen waren, konnte man ohne Schutzanzug an der Erdoberfläche arbeiten und in letzter Zeit sogar leben.
Anfangs nur privilegierte Marienthaler, natürlich, und auch die nur für Stunden. Seit SIE jedoch das Serum produzierten, das SIE mitgebracht hatten, musste kein Marienthaler mehr Helm oder Schutzanzug tragen.
Ein hoher Holzzaun umgab Jagdschloss und Baustellen. Am Sensor des verschlossenen Eingangs gab Calundula ihren Code ein und wartete. »Wozu der Zaun?«, wollte Guur wissen.
»Es gibt viele wilde Tiere in der Gegend«, sagte Calundula.
»Erst vor zwei Wochen haben Rottmards zwei Mitglieder einer Jagdexpedition gerissen.« Allein der Gedanke an die riesigen Wildhundmutanten ließ Calundula erschauern. Woran sie nicht einmal zu denken wagte: an die Namen und Gesichter derer, die gestorben waren, seit SIE den Bunker regierten.
Eine große, fettleibige Männergestalt schaukelte aus dem Rohbau einer Lagerhalle und kam zum Tor. Der Nashornkönig! Calundulas Herz machte einen Sprung – war es nicht ein gutes Omen, als erstem Marienthaler nach dem Liebeszauber dem Geliebten selbst zu begegnen? Beim Himmel über Köln: Das war es!
Auch auf PXLs breitem und sonst so maskenhaften Gesicht lag ein seltsames Strahlen. Schon im Begriff, das Tor zu öffnen, und den Blick noch immer in Calundulas Blick versenkt, bemerkte er Guur erst, als dieser ihn ansprach. »Ist es üblich bei euch, einem beliebigen Fremden einfach die Tür zu öffnen, Peeicks’ell?«
Paul-Xaver von Leyden zuckte zusammen. »Nein, ich… ich wollte nur…«
»Es ist gut. Mach auf und dann laufe! Sharan soll erfahren, dass ich gekommen bin.«
»Ja…« PXL tippte einen Code ein. »Ja, natürlich…« Das Tor versank im Boden, Calundula und Guur betraten das Außengelände der Marienthaler Bunkerkolonie.
PXL lief zum Jagdschloss. In seinem Inneren lagen die Kommunikationszentrale und der Haupteingang zum Bunker.
Doch bevor er das Schloss erreichte, öffnete sich dessen Gartenportal und die Königin selbst trat heraus. Es war, als hätte Sharan die Ankunft des Fremden gespürt. Oder längst erwartet? Jedenfalls ging sie an PXL und Calundula vorbei auf ihn zu.
Sie war hoch gewachsen, hatte sich ihr schwarzes Haar zu einem Dutt im Nacken zusammengebunden und trug einen Lederharnisch auf bloßer Haut. Vor dem Neuankömmling blieb sie stehen. Sie lächelte nicht, sagte kein Wort, machte keine Geste der Begrüßung – sie sah ihn nur an.
Calundula entfernte sich von Guur und der Königin. Sie tat das rasch, denn keiner in Marienthal blieb länger in IHRER Nähe als unbedingt nötig. Sie lief zu PXL, der am Schloss wartete. Alle drei Schritte blickte sie über die Schulter zurück zu Königin Sharan und dem Mann namens Guur. Die beiden standen schweigend und blickten sich an, weiter nichts. So jedenfalls wollte es Calundula scheinen. In Wahrheit jedoch hatten Sharan und der Fremde sich viel zu sagen. Allerdings benötigten sie dafür keine Sprache.
***
Ein Einmaster, zwölf Meter lang, zwei Meter breit und mit zwei Ruderbänken unter Deck. Bei ungünstigem Wind konnte man immer noch auf Muskelkraft zurückgreifen. Darauf hatte Rulfan großen Wert gelegt.
Eine Gruppe von neun Lords war gekommen, um ihm das Schiff zu übergeben. Reine Formsache – Rulfan hatte den Bau überwacht und kannte jedes Brett. Er bereitete Chira, seinem schwarzen Lupawelpen, ein Felllager im Ruderhaus. Auch sein Gepäck verstaute er dort: seinen Mantel, sein Schwert, seinen Strahler, sein altes Binocular, das Funkgerät, das sein Vater ihm aufgedrängt hatte, und die Leichtmetallkiste mit den Spritzen und den Ampullen.
Die Klinikabteilung von Salisbury hatte ihm genug Wirkstoff mitgegeben, um
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