1435 - Tödlicher Frost
akzeptieren.
Der alte Schamane wollte ihr das Leben nehmen, um seines zu verlängern. Wie das geschehen sollte, wusste sie nicht. Er war schließlich kein Vampir, der ihr Blut trank. Sie konnte sich nur vorstellen, dass er sie wieder in den frostigen Zustand hineinversetzte, um dann der wehrlosen Person das Leben aussaugen zu können.
Genau das wollte sie nicht zulassen.
Karina war es gewohnt, ihre Gefühle zu überspielen oder sie nach außen hin anders darzustellen, als sie wirklich waren. Das passierte auch jetzt, denn sie gab sich sehr ängstlich und fragte mit zitternder Stimme: »Was willst du?«
»Dein Leben.«
»Aber…«
Er streckte ihr den Finger entgegen. »Ich sauge deine Lebenskraft in mich hinein. Zu lange habe ich gewartet. Wir alle waren verschüttet. Meine Schüler und ich. Aber jetzt sind wir wieder da. Die Natur hat uns geholfen und uns aus dem Gefängnis befreit, in das sie uns vor urlanger Zeit hineingesteckt hat.«
»Vor langer Zeit also…«
»Ja.«
»Wie lange?«
»Es war noch Eis hier…«
Karina Grischin schauderte, als sie so etwas hörte. Das ging über ihren Horizont, und sie schüttelte den Kopf.
»Du kannst es nicht begreifen?«
»Nein, das kann ich nicht. Wie kommt es, dass du unsere Sprache sprichst, wo du doch so lange unter der Erde gelegen hast? Wie ist das möglich? Sag es mir.«
»Ich bin etwas Besonderes. Ich habe es nicht körperlich erlebt, aber geistig. Ich habe meinen Geist vom Körper lösen können. Mein Geist war frei, während mein Körper in der Höhle zurückgeblieben war. Nicht alle Menschen in meiner Nähe beherrschen es. Ich war ein Wissender, ein Schamane. Ich habe gelebt, als die Welt noch anders aussah. Viele flohen damals vor dem Eis in ein anderes Land. Damals hingen die Kontinente noch zusammen und…«
»Amerika!«, rief Karina.
»Ja, so nennt man das Land heute. Amerika, und die Menschen dort wurden von den Entdeckern als Indianer bezeichnet, was völlig falsch ist. Sie sind von hier gekommen. Ich wollte dem Eis auch entfliehen, aber es ist mir nicht gelungen. Meine Freunde und ich mussten leider bleiben. Doch jetzt sind wir wieder da, und ich werde mir durch meinen Zauber deine Kraft holen, damit ich eine Zukunft habe. Wir werden auf dieser Welt bleiben und…«
Karina konnte nicht mehr anders. Sie wich einen Schritt zurück und lachte, bevor sie mit lauter Stimme sagte: »Du bist verrückt! Ja, verdammt, du bist einfach nur verrückt. Du darfst nicht mehr leben. Du bist kein Mensch, aber auch kein Dämon. Du bist ein Relikt aus einer fernen Zeit, das kein Recht hat, hier zu sein.«
»Meinst du?«
»Ja, das meine ich. Auch wenn du es geschafft hast, deinen Geist vom Körper zu lösen und ihn auf Wanderschaft zu schicken, damit er in der Welt spioniert, lernt, alles aufsaugt – trotzdem ist deine Zeit vorbei, und die deiner Mitgänger auch.«
»Sie fängt erst an«, flüsterte der Schamane. »Und ich schwöre dir, dass sie mit dir anfängt!«
Er wollte nach ihr greifen.
Doch damit hatte Karina gerechnet und sich darauf eingestellt. Sie gehörte nicht umsonst zu den besten Kämpferinnen, und das bewies sie jetzt.
Blitzschnell trat sie zu. Ihr Bein beschrieb dabei einen Halbkreis, kam hoch und erwischte den faltigen Hals des Schamanen.
Karina hörte ein Geräusch wie ein Gurgeln. Sie sah, dass der uralte Mann wankte, und trat noch mal zu.
Diesmal erwischte sie das Kinn. Sie hörte ein Knacken und sah den Uralten fallen.
Es tat ihr nicht mal Leid, einen so alten Mann zu treten, denn in ihm steckte eine teuflische Bosheit, die ausgemerzt werden musste.
Sie hatte es selbst gehört. Sie wusste Bescheid, was er mit ihr vorhatte, und deshalb durfte sie keine Rücksicht nehmen.
Der Schamane lag auf dem Rücken. Er schrie etwas. Es war kein Fluch. Es hörte sich an wie schnell gesprochene Beschwörungsformeln, und für einen Moment dachte Karina daran, dass er in der Lage war, seinen Geist vom Körper zu trennen.
Würde er das auch hier tun?
Sie wollte auf Nummer sicher gehen und zog ihre Waffe. In diesem Augenblick griffen die anderen ein. Karina hatte sich nicht mehr um sie gekümmert. Doch jetzt hatten sie offenbar von ihrem Schamanen einen lautlosen Befehl erhalten.
Bevor Karina abdrücken konnte, hatten sie den Alten erreicht. Sie übersprangen ihn, sie deckten ihn mit ihren Körpern, sodass die Agentin nicht zum Schuss kam.
Leider beließen es die anderen nicht dabei. Sie wollten mehr. Sie wollten ihrem Anführer einen Gefallen
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