1435 - Tödlicher Frost
noch?
Sie hätte aus eigener Kraft von hier fortgehen können, denn so weit war sie wieder sie selbst. Doch Karina vermochte es nicht. Wie eine einsame Wächterin hob sie sich von der hellen Fläche ab, und jetzt spürte sie zum ersten Mal die reale Kälte.
Die kannte sie. Das von außen in den Körper eindringende eisige Gefühl, das einen zum Zittern brachte. Ihre Kleidung war zwar recht dick, doch lange würde sie hier nicht stehen und warten können. Karina wartete auf einen Befehl in ihrem Kopf, der sie endlich ans Ziel brachte.
Er kam nicht. Dafür sah sie etwas. Weiter vorn, von der Entfernung her kaum einzuschätzen, entdeckte sie eine Bewegung. Was das war, wusste sie nicht, aber sie hatte das Gefühl, einen breiten Wall aus Leibern zu sehen, der sich langsam an sie heran schob. Er schien aus der dünnen Schneedecke emporgewachsen zu sein.
Karina fiel ein, dass sie bewaffnet war. Fast hätte sie gelacht. Bisher hatte sie nicht an ihre Pistole gedacht, nun aber, da ihr der Gedanke gekommen war, wurde ihr endgültig klar, dass sie wieder normal war.
Aber was änderte das?
Im Moment nichts. Sie schaute auf die Reihe der Ankömmlinge.
Sie dachte nicht daran, zur Kaserne zurückzulaufen und sich in Sicherheit zu bringen. Sie wollte das jetzt durchstehen.
Da kein Schnee mehr fiel, hatte sich auch etwas in ihrer direkten Umgebung verändert. Es war nicht mehr so dunkel.
Zwar stand Sie nicht direkt im Licht der Scheinwerfer, aber der helle Schnee reflektierte die Strahlen, sodass auch die nähere Umgebung noch ausgeleuchtet wurde.
Man würde sie sehen können, aber was machte das schon?
Die andere Seite hatte sich bereits genähert, und Karina wurde jetzt bewusst, dass sie ihre Waffe in der Hand hielt.
Sie steckte sie wieder weg. Auf keinen Fall wollte sie die andere Seite schon jetzt provozieren.
Es waren Menschen, die auf sie zukamen, und sie waren ihr nicht fremd, denn es gab da jemanden, den sie bereits kannte und bei dem Wagen gesehen hatte.
Der alte Schamane löste sich von der Gruppe. Er ging wie ein Sieger. Seine Füße stapften durch den Schneeteppich, das Gesicht sah aus wie eine bleiche Maske.
Karina ließ ihn kommen. Sie wusste, dass es keinen Sinn hatte, wenn sie floh. Sie hatte seine Stimme gehört und machte sich jetzt darüber Gedanken, wie es möglich war, dass diese uralte Gestalt sogar in ihrer Sprache redete.
Der Schamane verkürzte die Entfernung zu ihr. Erst als sie dicht voreinander standen, stoppte er und schaute Karina ins Gesicht.
Ihr Mund zuckte. Auf der einen Seite wollte sie etwas sagen, auf der anderen fürchtete sie sich davor, die falschen Worte zu wählen.
Zudem wurde ihr Blick stark von den Augen des alten Schamanen angezogen. Sie waren wie zwei kleine Magnete, die eine Botschaft enthielten, die nur für sie bestimmt war.
Komm her. Wir sind da. Wir haben uns gefunden…
So ähnlich lautete die Botschaft, wobei sich Karina fragte, ob sie sich nicht alles nur einbildete.
Sie wurde angesprochen. Obwohl sie eigentlich damit hätte rechnen müssen, zuckte sie leicht zusammen. Es war nicht nur die Stimme, die sie vernahm. Sie dachte auch daran, wer da mit ihr sprach.
Das war diese uralte Gestalt, die so lange verschüttet gewesen war.
»Ich freue mich, dich in meiner Nähe zu haben. Dich habe ich gewollt, nur dich…«
Nach dieser kurzen Rede verstand Karina Grischin die Welt nicht mehr. Sie glaubte fest, sich verhört zu haben, denn so was konnte einfach nicht sein.
Nur sie war gewollt worden?
Warum, wieso? Was hatte sie getan?
»Ich…?«, fragte sie.
»Ja.«
»Nein, das ist unmöglich. Das glaube ich dir nicht. Was habe ich mit dir zu tun?« Sie wartete auf die Antwort und sah, dass sich der kaum erkennbare Mund in dem faltigen Gesicht bewegte. Aber noch sprach der alte Schamane nicht.
Karina musste auch keine Angst haben, von den anderen Gestalten angegriffen zu werden. Sie standen wie Puppen im Hintergrund, gefüllt mit dem magischen Frost. Dass sie die Gegend bereits unter ihre Kontrolle gebracht hatten, war an den reglosen Gestalten zu erkennen, die auf dem Schneeboden lagen.
Der alte Schamane streckte ihr die linke Hand entgegen. »Ich brauche dich, denn du bist so jung, und du hast etwas, das ich nicht mehr besitze.«
»Was denn?«
»Leben. In dir ist Leben, und das werde ich mir holen. Das muss ich mir holen…«
Karina hatte alles verstanden. Allerdings sagte sie nichts. Ihre Gedanken drehten sich in eine ganz andere Richtung. Wenn der alte
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