144 - Der Flug der Todesrochen
wiegen. Die Primärrassenvertreter des Zielplaneten legten neuerdings große List an den Tag und schreckten auch nicht davor zurück, Kleinstlebewesen einzuschleppen, die sich an der Daa’murenbrut zu schaffen machten. Aus diesem Grund verlagerten sie die Eier schon seit geraumer Zeit in die tiefen Bergwerkstollen der Narod’kratow. Dort waren sie vor weiteren Angriffen sicher.
Der erste dieser Transporte, der in dieses Bergwerk führte, hatte ein großes Loch in die Palisade gebrochen, damit der Tross auf direktem Weg zu den Eingangsschächten gelangte.
Mühelos passierten sie die zersplitterten Holzstämme, die wie ein zerfaserter Rand links und rechts von ihnen aufragten.
Veda’lin’mawils Nervenenden begannen zu vibrieren, als er sich zwischen den verlassenen Hütten entlang bewegte. Immer wieder blieb sein umher irrender Blick an Dingen des alltäglichen Bedarfs haften. Einmal entdeckte er einen mit trockenem Schimmel überzogenen Holzteller, dann ein Paar verknotete Schnürstiefel, die über einem vorstehenden Dachbalken hingen und im Takt des Windes schwangen. Beim Anblick einer zertretenen Strohpuppe, aus deren Stoffleib faserige Innereien quollen, zog sich Veda’lin’mawil der Magen zu einem kalten Klumpen zusammen.
Trauer stieg in ihm auf.
Trauer über das Ende einer jungen Narod’kratow, die sicher gerne weiter geatmet und gefühlt hätte. Der Daa’mure wusste selbst nicht, warum er so heftig reagierte. Bisher war das Massensterben unter den Modellen nur eine abstrakte, ferne Größe gewesen, die ihn nicht weiter berührte. Vielleicht hing es damit zusammen, dass er die Lust an körperlichen und geistigen Empfindungen zu entdecken begann.
Empfindungen, die sein Volk nicht einmal in ihrer früheren Körperlichkeit auf dem glutflüssigen Daa’mur gespürt hatte, geschweige denn in der kristallinen Existenz, in der es Äonen lang das Universum auf der Suche nach einer neuen Heimat durchquert hatte.
Das Phänomen war erst seit der Übernahme der speziell gezüchteten Echsen aufgetreten… nein, später noch: mit der Harmonisierung des irdischen Echsenkörpers und des daa’murischen Verstandes. Und wenn er sich auch noch mit niemandem sonst darüber unterhalten hatte, hegte Veda’lin’mawil den starken Verdacht, dass es etlichen seiner Brüder und Schwestern ähnlich erging. Es kursierten gar Gerüchte von sexuellen Vereinigungen zwischen Daa’muren und Menschen, obwohl dies zur Übertragung der gefügig machenden Viren gar nicht notwendig war.
Er scheute jedoch davor zurück, sich anderen zu offenbaren.
Diese… ja, diese Sucht nach Emotionen konnte nicht normal sein. Es behinderte ihn in seinem logischen, analytischen Denken, dass er jeden Atemzug genoss, den er schmeckte, jeden Flügelschlag, den er hörte, und jede farbenträchtige Pflanze, die er sah. Wenn der Sol davon erfuhr, dessen war sich Veda’lin’mawil sicher, würde er Gegenmaßnahmen einleiten. Die Emotionen unterbinden. Und dies war eine Konsequenz, die er nicht zulassen wollte.
Manchmal, wenn er genügend Muße besaß, sich auf die einströmenden Reize zu konzentrieren, überfiel ihn beinahe ein Rausch. Dann fühlte er sich auf eine Weise lebendig, die ihn nur noch unter Schmerzen an seine kristalline Existenz zurückdenken ließ.
Wobei dieser Schmerz nicht einmal unangenehm war, bedeutete er doch, dass jede einzelne Nervenbahn seiner Bio-Organisation spürbar wurde. Ja, starke Emotionen machten ihm die eigene Existenz deutlich, und je häufiger ihn Gefühle durchströmten, desto stärker wünschte er sie zurück, um sich selbst ganz und gar zu spüren.
Erneut fixierte Veda’lin’mawil die aufgeplatzte Puppe und versuchte sich das junge Modell vorzustellen, dem es gehört hatte. Vor seinem geistigen Auge nahm eine vier- bis fünfjährige Narod’kratow Gestalt an, die weinend nach ihrer geliebten Puppe greifen wollte, doch die unbekannten Hände, die sie zur Neutralisation verschleppten, waren stärker.
Die Trauer in Veda’lin’mawil verstärkte sich so sehr, dass er Atemnot verspürte. Der feste Druck, der plötzlich auf seinem Brustkasten lastete, war äußerst unangenehm; gleichzeitig machte er bis in die letzte Körperzelle deutlich, wie viel ein Lebender zu verlieren hatte, wenn er vor dem Ersticken stand.
Sich so deutlich dem Wert seines Lebens bewusst zu werden, erfüllte den Daa’muren mit tiefer Befriedigung.
(Veda’lin’mawil, du bleibst schon wieder zurück!), störte ein mahnender Ruf den
Weitere Kostenlose Bücher