1441 - Der Seelenfluss
Suko und Shao so schnell wie möglich gewarnt werden.
Den Kollegen hatte ich schon Bescheid gegeben. Jetzt versuchte ich es bei meinen Freunden. Dass sie noch auf waren, davon ging ich aus, aber mein Gesicht wurde immer länger, als niemand abnahm.
Auch im tiefsten Schlaf würden sie durch ein Telefongeräusch wach werden. Dass sie nicht abhoben, konnte nur eines bedeuten: Sie hatten die Wohnung verlassen.
Ich fühlte mich nicht gerade toll. Jetzt wurde mir die Zeit knapp.
Der nächste Anruf galt Sukos Handy. Aber weder er noch Shao meldeten sich, denn auch ihre Handynummer wählte ich.
Trotz der Kälte bildeten sich Schweißtropfen auf meiner Stirn. Ich hatte es eilig, aber ich konnte den Ort hier nicht verlassen, bevor die Kollegen eingetroffen waren.
Zu meinem Glück hatten sie sich beeilt. Sie fuhren mit drei Wagen, und die Dunkelheit wurde durch die gespenstisch anmutenden Scheinwerferlichter zerstört.
Der Yard-Kollege hieß Tim Gilliam. Er war der Chef und schaute sich um, nachdem er mich begrüßt hatte.
Ich blieb an seiner Seite, gab ihm eine Erklärung und machte ihm auch klar, dass er auf meine Anwesenheit verzichten musste und die protokollarischen Dinge später geregelt werden konnten.
»Da brauchen wir hier keine große Spurensicherung vorzunehmen?«, fragte er verwundert.
»So ist es.«
»Gut, Mr Sinclair. Können Sie uns auch sagen, wie es weitergeht?«
»Der Fall bleibt in meinen Händen und…«
»Wieder Ihre Dämonen oder Geister?«
Ich überhörte den Spott und sagte: »Nein, diesmal sind es keine. Oder noch nicht. Aber seien Sie froh, dass Sie nicht mit einem derartigen Fall behelligt werden.«
»Schon gut, keinen Stress.«
»Ich fahre dann.«
Ein Ziel hatte ich ihm nicht genannt. Es reichte aus, wenn ich es kannte.
Die Sorge um Suko, Shao und die junge Chinesin war nach wie vor da. Ich dachte an die Killer mit den Drahtschlingen, die noch grauenvoller waren als die aus Seide. Wenn sie einmal einen Plan verfolgten, gingen sie methodisch vor. Zweien von ihnen war die Flucht gelungen, und ich stellte mir die Frage, ob sie über alles informiert waren und auch eigenständig handeln konnten.
Es war zwar kalt, aber es gab noch kein Glatteis auf den Straßen.
Deshalb musste ich nicht so vorsichtig fahren. Zudem hatte ich das Blaulicht auf dem Dach befestigt. Es scheuchte auch die letzten Nachtschwärmer zur Seite.
Ich ließ den Wagen kurz vor dem Eingang stehen und huschte in die Halle, in der nur noch die Notbeleuchtung brannte.
Der Fahrstuhl fuhr mir zu langsam. Als ich wenig später durch den leeren Flur schritt, hatte ich das Gefühl, durch einen Tunnel zu gehen, der zu einer Totenwelt gehörte.
Ich hatte einen Schlüssel von Sukos Wohnung. Er hing an meinem Bund.
Vor der Tür wartete ich. Ich musste innerlich erst zur Ruhe kommen und nicht wie ein Elefant in die Wohnung stürmen. Außerdem wusste ich nicht, was mich erwartete.
Zu hören war jedenfalls nichts, als ich die Tür aufschob. Es war still in der Wohnung, aber auch dunkel, abgesehen von einer schwachen Lampe, die im Wohnzimmer stand.
Stille empfing mich. Ich schaltete die Deckenleuchte ein und machte mich auf etwas gefasst. Aber da war nichts. Eine leere Couch. Keine Chinesin mehr, die wir gerettet hatten. Aber auch von Shao und Suko keine Spur.
Ich durchsuchte die weiteren Räume mit dem gleichen Misserfolg und musste leider passen.
Was war zu tun?
Ich ließ mich auf einen Stuhl fallen und ordnete meine Gedanken.
Da ich in der Wohnung keine Kampfspuren entdeckt hatte, waren meine Sorgen nicht allzu groß.
Warum waren sie verschwunden und hatten mir keine Nachricht hinterlassen? Die Antwort lag eigentlich auf der Hand. Die junge Chinesin war bestimmt erwacht, hatte geredet, und so konnten Shao und Suko die Konsequenzen ziehen. Sie hatten die Kleine aus ihrer Wohnung in Sicherheit gebracht.
Wohin? Wer war sie?
Vielleicht war sie eine der zahlreichen nicht registrierten Menschen, die in Chinatown lebten und aus diesem Gebiet kaum wegkämen. Manche wurden wie Sklavinnen gehalten und einigen war die englische Sprache sogar noch auf dem Sterbebett fremd.
Shao und Suko konnten sich in diesem Viertel bewegen, ohne groß aufzufallen. Das war ein Vorteil. Bei mir sah es anders aus.
Ob es mir passte oder nicht, ich war in die Defensive gedrängt worden. Die große Spannung fiel allmählich von mir ab. Ernüchterung breitete sich aus, und ich spürte auch wieder die Schmerzen in meinem linken Schultergelenk.
Das
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