1455 - Das Gewissen des Henkers
gab keinen Rauch mehr, der ihre freie Sicht hätte stören können. Es herrschte auch kein anderer Geruch, denn sie war wieder in der Lage Luft zu holen.
Der Blick auf das Bild!
Da gab es kein Bild mehr. Was sie sah, war ein dunkler Rahmen ohne Leinwand. Das heißt, es hingen noch einige Fetzen von ihr innerhalb des Rahmens. Nicht mal einen Brandgeruch gaben sie ab, aber nach Qualm hatte es bei dem Vorgang auch nie gerochen.
Das Porträt war verschwunden! Und genau das wollte und konnte Fiona Lester nicht fassen. Lincoln Lester, der Henker, hatte sich aus dem Staub gemacht.
Nur ein Kopf und der Schulteransatz, wie er auf dem Bild zu sehen gewesen war?
Nein, daran konnte sie nicht glauben. Sie hatte es anders gesehen und wusste, dass sie keiner Täuschung erlegen war. Dieses Bild hatte sich aufgelöst und war an anderer Stelle wieder neu entstanden.
Sie verglich es mit einer schaurigen Geburt, und sie merkte dann, wie es eisig ihren Rücken hinab rann, als hätte sie eine Begegnung mit dem Tod gehabt, was unter Umständen sogar nicht ganz falsch war, denn Lincoln Lester, der Henker, war tot.
Fiona dachte nach.
Es half ihr nichts. Was sie da gesehen hatte, war einfach unmöglich und unerklärlich. Warum sie plötzlich anfing zu weinen, wusste sie nicht. Sie ging dann einfach weiter, schüttelte den Kopf, und kurz vor der Treppe fing sie sogar an zu lachen, weil ihr dieses verdammte Porträt nicht aus dem Kopf wollte.
Sie senkte den Kopf und schaute auf die Stufen nieder. Die dünne Haut an ihrem Hals zuckte, als sie schluckte, und diese Reaktion zeigte, dass sie nicht wusste, was sie unternehmen sollte.
Es gab diese verdammte Gestalt. Sie hatte sie sich nicht eingebildet. Sie war ein Zerrbild des Grauens. Sie war der Henker, der eigentlich längst hätte tot und vermodert sein müssen, was sicherlich auch der Fall war. Jetzt aber war er auf eine andere Art und Weise zurückgekehrt, über die es sich kaum nachzudenken lohnte, weil es für sie einfach keine Erklärung gab.
Fiona stöhnte auf. Ihr Gesicht war hochrot angelaufen. Die Lippen zitterten, und als sie die Stufen der Treppe hinab ging, da bewegte sie sich wie eine alte Frau. Sie musste sich am Geländer festhalten, sonst wäre sie gefallen.
Aber sie riss sich zusammen, ballte dabei die freie linke Hand und war froh, als sie die letzte Stufe geschafft hatte. In der Nähe befand sich die Haustür. Sie schaute nach und schüttelte den Kopf. Klar, die Tür war geschlossen. Der Henker, der als Ahnherr zur Familie gehörte, hatte das Haus längst verlassen und war unterwegs. Wohin, das wusste wohl nur er selbst.
Aber das war nicht möglich!
»Nein, nein, nein, verdammt!«, schrie Fiona so laut, dass es durch das Haus hallte. »Ich glaube nicht daran. Das kann nicht sein. Ein Bild kann sich nicht auflösen und sich dabei von einem Porträt in eine normal große Gestalt verwandeln!«
Im Prinzip stimmte dies. Es gab keine Erklärung, aber es war trotzdem der Fall gewesen.
Fiona Lester wusste nicht, was sie unternehmen sollte. Sie hatte etwas erlebt, das sie nie im Leben vergessen würde. Auch das stand für sie fest, und sie ging davon aus, dass dieses Erlebnis erst der Anfang gewesen war.
Ein Beginn. Und es würde eine Fortsetzung geben, dessen war sie sich sicher.
Sie drückte die Tür zur Küche auf. Im Raum war es dunkel, und so schaltete sie das Licht ein.
Fionas Onkel war ein Mensch, der gern Gin trank. Auch in der Küche stand immer eine Flasche. Fiona wurde in diesem Augenblick klar, dass ihr jetzt ein Schluck gut tun würde, und deshalb zog sie die Schranktür auf, nahm die Flasche mit an den Tisch, an den sie sich setzte. Sie zog den Korken heraus und trank einen langen Schluck.
Der Wacholdergeschmack lag ihr eigentlich nicht, auch jetzt musste sie husten und flüsterte fluchend vor sich hin, was sie nicht verstand. Das Erlebnis saß tief in ihr, und ihr kam auch zu Bewusstsein, dass sie nicht länger allein im Haus ihrer Verwandten bleiben würde. Wenn hier Dinge passierten, die an die Grenze des menschlichen Begreifens gingen, dann war das eine Sache, mit der sie nicht allein zurechtkam.
Sie stützte beide Ellbogen auf die Tischplatte und flüsterte: »Das ist mir zu hoch. Das – das – kann ich nicht begreifen…«
Sie blieb länger sitzen, aber sie trank keinen Gin mehr, sondern holte die Wasserflasche. Dabei ging ihr durch den Kopf, dass sie bei ihrer Ausbildung zur Polizistin mit schlimmen Dingen konfrontiert worden war. Sie hatte
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