1464 - Die Vergessene
Schultern.
»Ich habe Fatima Orex nur meine Telefonnummer gegeben. Ich denke, dass sie sich mit mir in Verbindung setzen wird. Ehrlich gesagt, davor habe ich Angst.«
Das konnten wir verstehen. Wir erkundigten uns nach einem Zeitpunkt, aber den hatten die beiden Frauen nicht ausgemacht. Die Talkshow würde auch erst am nächsten Tag sein. Es war nur ausgemacht worden, dass Fatima Orex der einzige Gast sein würde.
»Sie sagten, dass Sie Fatima nicht erreichen können?« erkundigte ich mich.
»So ist es. Sie wollte sich bei mir melden, und ich denke, dass wir nicht mehr lange darauf zu warten brauchen.« Angie schloss für einen Moment die Augen und ließ sich in einen Sessel fallen. »Es ist alles so schrecklich kompliziert«, sprach sie vor sich hin. »Ich finde es inzwischen schlichtweg grauenhaft. Die Sache mit dem Finger hat mich geschockt. Wie kann man einen Finger verlieren, ohne es zu bemerken und ohne dass man blutet?«
Ich verzog leicht den Mund. »Indem man bereits einige tausend Jahre überlebt hat.«
»Das ist für Sie sicher?«
»Ja, das ist es. Fragen Sie mich jetzt bitte nicht nach den Gründen, aber wir haben mit diesen Phänomenen zu tun und untersuchen sie. Es ist unser Job.«
»Gut«, sagte sie leise. »Das muss ich akzeptieren.« Ihr Gesicht zeigte ein verlorenes Lächeln. »Ich wollte einen interessanten Beruf haben. Den habe ich auch bekommen, aber dass es so etwas…«
Erneut meldete sich das Telefon, und wieder zuckte Angie Lee zusammen. »Glauben Sie, dass es Fatima ist?«
»Gehen Sie ran!« sagte ich.
Angie Lee hob mit schwerer Hand ab, meldete sich, ohne ihren Namen zu nennen, und zog dann den Kopf ein, als sie hörte, wer da mit ihr sprechen wollte.
Den Namen teilte sie uns flüsternd mit. »Es ist Fatima Orex…«
***
Fatima war noch nicht so nahe an ihn herangekommen, dass er sich nicht hätte wehren können, aber Rick Portman stand unter Schock.
Sie tat noch nichts. Sie bewegte ihre Lippen, ohne etwas zu sagen.
Es war ein seltsames Verhalten, denn sie sah aus wie ein Mensch, der es sehr schwer hatte. Einige Male fuhr sie mit der flachen Hand durch ihr Gesicht und knetete die linke Hälfte stärker als die rechte.
Sie stöhnte dabei, schwankte leicht und flüsterte, dass sie Lebenskraft brauchte, unbedingt Lebenskraft.
Der Chefredakteur konnte damit nichts anfangen. Er war nur froh über jede Sekunde, die er länger lebte. Aber er fühlte sich noch nicht fit genug für eine Flucht und blieb deshalb auf dem Boden liegen, wobei er die Frau nicht aus den Augen ließ.
Erneut fuhr sie über ihre linke Gesichtshälfte hinweg. Portman sah, dass sich ihre Finger krümmten und sie einen Gegenstand umfasste, der an ihrer linken Kopfseite hing.
Es war das Ohr.
Für einen Moment tat sich dort nichts. Die Finger blieben gekrümmt, sie hielten das Ohr fest, und dann sah Rick Portman etwas, das ihn fast an seinem Verstand zweifeln ließ.
Ein Ruck der linken Hand, ein leiser Schrei, dann fiel die Hand nach unten. Portman konnte die Bewegung verfolgen. Er kam auch nicht auf die Idee, woanders hinzuschauen. Er sah nur das Schreckliche und auch Unglaubliche.
Das Ohr befand sich nicht mehr an der linken Kopfseite. Fatima Orex hatte es abgerissen und hielt es in der Hand.
In diesem Moment glaubte Portman, dass die Zeit stehen geblieben wäre. Um ihn herum war alles anders, nur nicht normal.
Der Frau, deren Haar wie Wüstensand aussah, fehlte tatsächlich das linke Ohr.
Er konnte es nicht fassen. Sein Gesicht zeigte einen Ausdruck zwischen Erstaunen und Entsetzen. Zugleich glitt sein Blick tiefer, und so sah er, dass Fatima ihr Ohr in der Hand hielt.
Es gab kein Blut.
Gar nichts.
Nicht ein Tropfen quoll aus der Wunde, wobei die Stelle nicht mal so aussah wie eine Wunde. Wo sich das Ohr mal befunden hatte, gab es vielleicht ein Loch, aber kein Blut. Zudem schimmerte dort kein Knochen, es hing auch keine Haut in Fetzen herab. Die Frau musste in ihrem Innern völlig blutleer sein.
Das konnte begreifen, wer wollte. Rick schaffte es nicht. Erbrachte es auch nicht fertig, sich aus seiner liegenden Haltung auf die Beine zu quälen. So blieb er vorerst liegen und schaute von unten in dieses glatte Gesicht, in dem sich nichts rührte, was auch auf die Augen zutraf.
Irgendwann bewegte sich Fatima wieder. Aber sie ging nicht vor, sie trat zur Seite, um näher an den Tisch heranzukommen. Und dort legte sie ihr eigenes Ohr ab wie ein Geschenk, mit dem sie jemanden überraschen
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