1464 - Die Vergessene
nichts, keine Schmerzen mehr, kein Hämmern und Stechen in seinem Kopf, denn alles war anders geworden.
Er war ein Mensch ohne Seele.
Und deshalb gehörte er dem Tod!
***
Fatima Orex richtete sich auf. Sie wusste, wann sie aufhören musste, denn sie hatte den letzten Schlag des Herzens genau gespürt. Das war für sie das Zeichen gewesen, sich von diesem Menschen zu lösen, der kein Mensch mehr war. Zumindest kein lebender. Der Kopf war zur rechten Seite gerutscht, der Hals war dabei ein wenig verdreht, und die Augen hatten jeglichen Glanz verloren.
Es war vorbei!
Allmählich verschwand das Gefühl der Anstrengung aus dem Gesicht der Frau. Es ging ihr wieder besser, und ihr Gesicht zeigte wieder die normalen Züge.
Sie wischte über ihren Augen, dann über das ganze Gesicht hinweg und vergaß dabei auch nicht das noch vorhandene rechte Ohr.
Sie knetete es regelrecht durch, und es sah so aus, als wollte sie einen Test durchführen. Das Ohr blieb an ihrem Kopf, und ein Lächeln huschte über ihre Lippen, Es war geschafft. Sie hatte den Verfall zunächst einmal stoppen können. Sie hatte das Leben eines Menschen getrunken, und genau darauf kam es ihr an.
Um den Toten kümmerte sie sich nicht mehr. Das Wort Gewissensbisse kannte sie nicht. Fatima war losgelassen worden, um ihren Weg zu gehen. Ganz allein in einer Welt, die sich so sehr verändert hatte.
Sie schaute sich das Ohr auf dem Tisch an.
Sie würde es dort liegen lassen. Es würde verwesen, aber sie würde es nicht. Sie würde leben, und zwar durch die Lebenskraft anderer Menschen.
Auch wenn so viele Jahre vergangen waren und es ihr Land nicht mehr gab – jetzt war sie zurückgebracht worden, um sich in der neuen Welt zurechtzufinden.
Es hatte sich irrsinnig viel verändert, aber sie hatte auch sehr schnell gelernt. Die lange Zeit des Verschwindens war nicht umsonst gewesen. Die Anderen hatten sie schon präpariert und auch für die perfekte Beherrschung der Landessprache gesorgt.
Sie hatte sich vorgenommen, sich einen Platz in der neuen Welt zu erobern, und sie würde es schaffen. Es war wichtig für sie, sich den Menschen zu nähern, und damit meinte sie beide Geschlechter, Männer und Frauen.
Eine Frau hatte sie sich ausgesucht. Von einer Sympathie zwischen ihnen beiden wollte sie nicht sprechen. Es ging Fatima einzig und allein um ihren Vorteil.
Die Station mit dem Telefon darauf stand nicht weit entfernt. Sie hob den Apparat an. In ihrem Gedächtnis hatte sie eine bestimmte Nummer gespeichert, die rief sie an, um für die nächsten Schritte alle Vorbereitungen zu treffen…
***
Mit unserer Gelassenheit war es vorbei, als wir den Namen der Anruferin hörten.
War das die Spur?
Darüber machte ich mir im Moment keine Gedanken, wichtig war jetzt Angie Lee. Sie durfte keinen Fehler machen. Ich bewegte meine Hände in einer bestimmten Geste. Sie sollte andeuten, dass Angie ruhig bleiben sollte, und ich hoffte, dass sie mich verstand.
Der Lautsprecher war noch an, und so hörten wir die Stimme der Anruferin fragen: »Bist du noch da?«
»Ja.«
»Sehr schön.«
»Was willst du, Fatima?« Angie hatte große Mühe, ihre Stimme nicht zu sehr zittern zu lassen.
»Waren wir nicht verabredet?«
»Ja, aber nicht genau. Ich meine…«
»Schon verstanden. Du sprichst von einem Treffpunkt.«
»In der Tat, das meine ich.«
Ich hatte mich dicht neben Angie gestellt, sodass ich ihr ins Ohr wispern konnte: »Sagen Sie ihr, dass sie hierher in Ihre Wohnung kommen soll.«
Angie nickte, presste aber zugleich die Lippen zusammen.
Zum Glück hatte Fatima mein Geflüster nicht gehört, und sie fragte: »Du bist noch immer überrascht?«
»Ja, das bin ich.«
»Aber wir wollten uns doch treffen. Hat du das vergessen, Angie?«
»Nein, das habe ich nicht. Ich habe nicht mehr daran gedacht. Es ist alles so überraschend für mich gekommen.«
»Das kann ich verstehen. Aber lass uns die Dinge regeln.«
»Gut«, sagte Angie schnaufend, und sie sah auch mein beruhigendes Nicken.
»Ich möchte dich heute noch sehen, Angie…«
»Okay. Ich mache dir einen Vorschlag.« Angie hatte sich wieder gefangen und spielte mit. »Ich würde vorschlagen, dass wir uns bei mir treffen.«
»Bitte?«
»Ja, in meiner Wohnung. Das ist doch eine gute Idee. Oder denkst du anders darüber?«
»Und ob. Nein, ich habe einen anderen Vorschlag.«
»Und welchen?«
»Wir nehmen das Auge als Treffpunkt. Es hat mich schon immer sehr fasziniert.«
»Welches Auge, bitte?«
»Das
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